
Ein tödlicher Unfall teilt das Leben von Karmen in ein Davor und Danach. Sie überfährt ein vierjähriges Mädchen, das ihr plötzlich vors Auto läuft. Das Kind stirbt noch an der Unfallstelle und nichts ist mehr wie es mal war. Karmen gerät in einen Strudel aus Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen. Ihr Alltag wird zum medialen Höllentrip.
Anika Suck lässt uns teilhaben am Seelenleben einer jungen Frau, die es bereits vor dem schrecklichen Ereignis nicht leicht hatte. In gewisser Weise repräsentiert die junge Protagonistin große Teile einer Generation, deren Leben durch die hohen Erwartungen der Gesellschaft beeinflusst und oft auch beeinträchtigt werden. Das Ideal eines gradlinigen Lebenslaufs mit guter Ausbildung und klaren Zielen im Leben, Familie, Kinder, Karriere – all das macht Karmen sehr zu schaffen. Denn sie ist überfordert mit diesen normativen Ansprüchen. Längst bereut sie ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin. Sie ist unglücklich und überfordert. Ihre promiskuitive Sexualität passt nichts ins „normale“ Bild. Sie konsumiert Drogen, hangelt sich mehr schlecht als recht durch den Alltag. Einige unaufgearbeitete Traumata aus der Kindheit belasten sie mehr oder wenig unbewusst. Der schreckliche Unfall, zu dessen Verursacherin sie plötzlich wird, bringt das eh schon fragile Gleichgewicht zum Einsturz.
Wie ich wirklich über meine Zukunft denke, kann ich der Gutachterin
nicht sagen. Wenn ich Glück habe, hat mich das Gefängnis in drei Jahren schon
wieder ausgespuckt – ein Tumor, den es gedauert hat, herauszuhusten. Ich
bekomme vielleicht wieder einen Job in einem Mangelberuf, dann reiche ich um
Frühpension ein wegen meiner angeknacksten Psyche. (…) Wenn es gut läuft, kann
ich mich dann mit den Menschen anfreunden, die ihr Geld in steile
Dopaminspritzen stecken, in Spielautomaten oder Fußballtickets. Wenn ich Glück
habe, werde ich eine von denen sein, die irgendeinen heiraten und dann werde
ich ihn hassen, weil uns das nirgendwohin geführt hat, außer in getrennte Betten,
aber zumindest ist man nicht allein.“
Seite 92
Äußerst mutig nähert sich die Autorin tabuisierten Fragen. Offen wagt sie der Schuldfrage nachzuspüren. Wie groß ist die Schuld, wenn einem passiert, was Karmen passiert? Wenn einem passiert, was jedem von uns hätte passieren können? Und selbst wenn man schuldig ist, hat man dann nicht auch ein Anrecht auf Mitgefühl? Was fließt alles mit hinein in ein Urteil? Hat man als Außenstehende:r überhaupt das Recht zu werten? Oder gibt es Situationen, die sich einer Bewertung entziehen?
Karmen ist keine leicht zugängliche Protagonistin. Ihr Verhalten ist sprunghaft und erregt selten Sympathie. Doch genau darum geht es. Suck zeigt uns, dass wir Mitgefühl nicht davon abhängig machen dürfen, ob wir eine Person sympathisch finden. Denn ob das so ist, hängt oft von Faktoren ab, die keiner von uns selbst beeinflussen kann. Karmens Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet auch ihr Recht „neutral“ bewertet zu werden.
Die gerichtliche Untersuchung stürzt Karmen in eine tiefe Lebenskrise. Suck dokumentiert den wachsenden Kontrollverllust ihrer Protagonistin in eindringlichen Bildern. Immer stärker driftet die von Karmen erlebte Realität vom allgemein Gewohnten ab. Die Gerichtsverhandlung nimmt kafkaeske Züge an. Suck zeigt dabei auch die Dynamik auf, die die öffentliche Meinung, angetrieben durch die Medien, nimmt. Vergleichbar Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ sitzt auch hier eine junge Frau auf der Anklagebank, die allein wegen ihres Lebenswandels von der Öffentlichkeit vorverurteilt wird.
Sucks Roman ist komplex. Der Unfall zu Beginn ist nur ein Auslöser für zahlreiche kritische und unbequeme Fragen, die sich nicht nur die Protagonistin im Laufe der Handlung stellt. Fragen, die die Autorin ihren Leser:innen zuwirft, ohne selbst Antworten anzubieten. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld voller Widersprüche, das es bei der Lektüre auszuhalten gilt. „Was danach kommt“ ist ein herausfordernder Text, der sich trotzig dem Leserwunsch gefällig zu sein, widersetzt. Ein Text, der zur Diskussion einlädt und Kontroversen heraufbeschwört.
- Autorin: Anika Suck
- Titel: Was danach kommt
- Verlag: Kremayr & Scheriau
- Erschienen: 30. Juli 2025
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 248 Seiten
- ISBN: 978-3218014694
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Wertung: 12/15 dpt







