
“Mein letztes Jahr der Unschuld” zu beschreiben ist schwierig. Während es eigentlich eine einfache Geschichte ist (Professor fängt Beziehung mit einer Studentin an – Studentin merkt erst zu spät, dass es sich um ein Machtungleichgewicht handelt und es ihr nicht gut tut), werden so viele schwierige Themen miteinander verbunden, die deutlich machen: Die Grenze zwischen kindlichen Leichtsinn und Erwachsenwerden sind fließend und nicht alles (schlimme) das passiert kann eindeutig in schwarz/weiß aufgeteilt werden.
“Mein letztes Jahr der Unschuld” von Daisy Alpert Florin, wurde 2024 vom Eiseleverlag veröffentlicht. Es geht darum, wie es ist, als Frau aufzuwachsen – und das blind gegenüber Gewalt, Missbrauch und Ungerechtigkeit, weil vieles davon im Alltag normalisiert wird.
Das Buch beginnt mit Isabell Rosen, die als Kind eines jüdischen Feinkosthändlers, Literatur an der Cornnell studiert. Dort arbeitet sie mit Freundinnen an einem feministischen Magazin, schreibt talentiert Geschichten und erlebt die üblichen Beziehungsdramen. Bald aber fällt sie in den Blick des neuen Literaturdozenten – einem verheirateten Mann, dessen Frau erfolgreiche Schriftstellerin ist. In dieser Zeit wird Isabell mit Erlebnissen konfrontiert, die ihr schnell über den Kopf wachsen: Darunter eine mutmaßliche Vergewaltigung, ihr Dozent, der ihr das Gefühl gibt besonders zu sein und sich in ihrem Licht baden will, ein Kind das verschwindet und ihr Vater, der ihr die aufgenommenen Studienkredite verheimlicht hat. Isabell ist oft überfordert und hat Schwierigkeiten zu verstehen, was um sie herum passiert – nicht, weil sie es nicht verstehen könnte, sondern weil Anfang zwanzig ist.
Das Buch zu lesen war wie einer alten Freundin zuzuhören. Die Geschichte wird von einer älteren Isabell erzählt, die als Schriftstellerin erfolgreich wurde und ihre Jugend reflektiert. So ist es die ältere Isabell, die mal direkt oder indirekt einordnet, was ihrem kindlichen Ich passiert ist: Dass sie (wie andere jungen Frauen auch) für ihre Jugend, ihr Talent oder einfach ihr Frau-Sein von Männern missbraucht worden ist – und oft in dieser Zeit nicht eingeordnet werden konnte, was eigentlich passiert ist. Dass es später Me-Too und feministische Debatten brauchte, um das Verhalten einzelner einzuordnen. Sie macht aber auch klar, dass es nicht so einfach ist, Schuldige für ihre Erlebnisse zu finden – Isabell hat unter anderem von der Aufmerksamkeit ihres Dozenten profitiert und sich nach dieser gesehnt, weil ihr diese (fragwürdige) Beziehung Selbstvertrauen gegeben und sie motiviert hat.
“Mein letztes Jahr der Unschuld” ist unglaublich gut geschrieben. Die Erlebnisse der jungen Isabell fließen in die Perspektive der älteren. Isabells Innenleben und Handeln wird liebevoll beschrieben und ein Bedeutungsüberschuss in jeder Situation fühlbar, ohne ihn immer direkt benennen oder beschreiben zu können. Handlungen und ihre Bedeutung für Isabell und ihr Umfeld offenbaren sich organisch, ohne dass sich etwas erzwungen anfühlt, um die Geschichte weiterzuführen. Schicht für Schicht wird offenbart, dass sich hinter dem Handeln der Figuren mehr verbirgt als bloße Lust oder Gier, sondern die Angst vor dem alleine sein und der Kampf um Selbstakzeptanz.
Insgesamt ist “Mein letztes Jahr der Unschuld” ein Buch, das ich aus unterschiedlichen Gründen weiterempfehlen möchte: Ganz klar – es ist fantastisch geschrieben. Ich habe selten so gute Bücher gelesen, die Handlung und Erzählung so geschmeidig ineinander fließen lassen. Aber auch die Handlung ist unglaublich mitreißend. Wir begleiten Isabell dabei zu verstehen, wie die Welt um sie herum funktioniert, und was diese patriarchale Welt ihr aufzwingt, wenn sie nicht lernt, sich zu wehren. Und zwar Ausbeutung, Missbrauch und Abhängigkeit von Männern, statt einen eigenen Selbstwert zu entwickeln. Aber sie lernt auch Menschen für die zu nehmen, die sie sind und sich nicht von ihren eigenen Erwartungen blenden zu lassen.
- Autor: Daisy Alpert Florin
- Titel: Mein letztes Jahr der Unschuld
- Originaltitel: My Last Innocent Year
- Übersetzer: pocaciao und Robert de Hollanda
- Verlag: Eisele
- Erschienen: 2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 336
- ISBN: 978-3-96161-186-7
- Sprache: englisch
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 14/15 dpt







