Alexandra Wilson – Die feindliche Zeugin (Buch)

Atmosphärischer Justizthriller mit überraschendem Ausgang

In einem Park im Osten Londons kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Weißen und drei Schwarzen, in der plötzlich ein Messer zum Einsatz kommt. Augenblicke später liegt der weiße Krankenpfleger Thomas Dove schwer verletzt auf dem Boden, während ihm der schwarze Jugendliche Emmett Hamilton zu helfen versucht. Für die alarmierte Polizei ergibt sich hingegen folgendes Bild: Dove wurde niedergestochen, Emmett am Tatort mit blutverschmiertem Pullover und dem Tatmesser angetroffen. Die beiden anderen Schwarzen konnten unerkannt fliehen, später bestätigen zwei Zeugen, dass sie den Streit eindeutig beobachten konnten und Emmett der Mörder sei.

„Ruhig, Bro, ich bin nicht dein Feind. Ich sage nur … also echt, wir halten dich alle für schuldig, das ganze Land, schätze ich, aber was kümmert dich das? Die einzigen Leute, auf die’s ankommt, sind die zwölf Geschworenen bei deinem Prozess, oder?“

Rosa Higgins arbeitete bislang als Junioranwältin und wird von Rechtsberater Craig Rowling gebeten, den medial viel beachteten Fall (erstmals) als Prozessanwältin zu übernehmen. Die Faktenlage scheint erdrückend, doch warum sollte Emmett einen Mann erstechen, den er gar nicht kannte? Und warum hielt er sich zur Tatzeit in dem Park auf? Emmett ist Einserschüler, hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, weswegen Rosa an seine Unschuld glaubt. Allerdings, das muss sie eingestehen, ist es nicht mehr als ein Bauchgefühl. Sie braucht dringend verwertbare Informationen, am besten gar Entlastungszeugen oder zumindest die Aussagen seiner beiden Freunde. Zu ihrer Überraschung und Enttäuschung beteuert Emmett zwar seine Unschuld nachdrücklich, verweigert aber jegliche Angaben zu seinen Begleitern.

Erwartungsgemäß wird Emmett wegen Mordes angeklagt, der Prozess naht und plötzlich hat Rosa auch noch mit privaten Problemen zu kämpfen, da ihre Großmutter schwer erkrankt und sich irgendjemand um ihren jüngeren Bruder kümmern muss.

Einblicke in ein Justizsystem, dem Vorurteile nicht fremd sind

Alexandra Wilson ist Rechtsanwältin in England und kennt das dortige Rechtssystem dementsprechend in all seinen Facetten, zu denen vor allem gehört, dass es vor Gericht nicht darum geht, ein Verbrechen aufzuklären, sondern die Geschworenen zu überzeugen. Dies ist im vorliegenden Fall besonders schwer, da nicht nur die Beweislage eindeutig erscheint und zudem der Angeklagte beharrlich schweigt, sondern dieser ein Schwarzer ist. Die zwölf Geschworenen sind alle Weiße und neigen, ebenso wie der Staatsanwalt, teils zu Vorverurteilungen, wie sich im Prozess zeigen wird. Der Roman greift somit die wichtigen Themen Rassismus und Vorurteile zwar auf, dies aber angenehm dosiert und keineswegs moralinsauer.

„Tja, das alles kommt einem schon wie eine ziemliche Zeitverschwendung vor – für irgendeinen Schwarzen Jungen, der jemand umgebracht hat. Warum muss es überhaupt einen Prozess geben, wenn wir alle gesehen haben, dass er es war?“

Die Einblicke in das Justizsystem sind ausführlich und betreffen neben den Zuständigkeiten der Gerichte und der Vorstellung der Prozessbeteiligten, vor allem die Prozessabläufe selbst. Wer Justizthriller mag, sollte nicht nur aus diesem Grund zugreifen. Zu Beginn hält sich die Spannung etwas in Grenzen, da die Ausgangslage klar scheint und Emmett seiner Anwältin keine Anhaltspunkte für eigene Ermittlungen bietet. So werden zunächst neben juristischen Einzelheiten einige Figuren vorgestellt, wobei der Fokus klar bei der Protagonistin liegt, die Emmett besser versteht, als diesem klar ist. Die dreißigjährige Rosa lebt mit ihrem Bruder Toby, dieser geht noch zur Schule und hat einen anderen Vater, bei ihrer oft Patois sprechenden Großmutter, da die gemeinsame Mutter seit geraumer Zeit im Gefängnis sitzt. Die familiäre Situation ist kompliziert, zumal die geliebte Großmutter ihren Gesundheitszustand verschweigt. So hat nicht nur Emmett seine Geheimnisse, was Rosa zunehmend belastet.

Mit fortschreitender Handlung steigt die Spannung spürbar, wobei Alexandra Wilson ihre Leser auf die eine oder andere falsche Spur lockt. Mit der titelgebenden „feindlichen Zeugin“ ist übrigens eine Person gemeint, deren Vorladung womöglich nach hinten losgehen könnte, da sie die Aussage verweigert oder nicht den erhofften Beweis erbringt. Die Auflösung beinhaltet einen Knalleffekt, der den insgesamt durchgehend positiven Eindruck festigt. Im August 2025 stand „Die feindliche Zeugin“ auf Platz 6 der Krimibestenliste. Eine Verfilmung scheint nicht ausgeschlossen und eine Fortsetzung für Rosa wäre wünschenswert. Lesenswerter, einfühlsamer Justizthriller!

  • Autorin: Alexandra Wilson
  • Titel: Die feindliche Zeugin
  • Originaltitel: The Witness. Aus dem Englischen von Karin Diemerling
  • Verlag: Suhrkamp
  • Umfang: 366 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Juni 2025
  • ISBN: 978-3-518-47486-0
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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