Trauen Sie nicht dem Protagonisten

In einem Bungalow-Komplex in Los Angeles, Hollywood, auf der Südseite der Franklins, hört ein Mann seine ihm gegenüber wohnende Nachbarin schreien. Immer wieder kommt dies vor, doch heute steht die junge Frau wenig später vor seiner Tür. Sie heißt Corinna und hat einen Anruf von ihrer Stiefmutter Sylvia erhalten, wonach ihr verstorbener Vater sein sie begünstigendes Testament kurz vor seinem Tod, der sich vor einigen Monaten ereignete, zugunsten Sylvias ändern wollte. Jetzt, arg angetrunken, wolle sie am liebsten ihre Stiefmutter ermorden.
Am nächsten Morgen entschuldigt sich Corinna für ihren denkwürdigen Auftritt, bittet den Mann jedoch, ihre Mutter in ihrem Haus im Benedict Canyon aufzusuchen, um in Erfahrung zu bringen, was diese wirklich vorhat. Eigentlich will er sich raushalten, aber die angebotenen zweihundert Dollar sind leicht verdientes Geld. Zu seiner Überraschung, bestätigt ihm Sylvia den von Corinna geschilderten Sachverhalt und warnt ihn stattdessen von Corinna, die schon wiederholt die Kontrolle über sich verloren hat.
Sie wollen ein Detektiv sein? Dann seien sie auch einer. Sie müssen nicht verstehen, was ich sage, sie müssen es herausfinden.
Der Mann gibt die Information an Corinna weiter, die ihn erneut bittet, die Stiefmutter aufzusuchen. Dabei lässt er einen Stick mitgehen, auf dem Corinnas Vater und Sylvia bei einem Fesselspiel zu sehen sind. Wenig später kommt es zu einem handfesten Streit zwischen ihm und Corinna, der komplett eskaliert. Als sich Sylvia wenig später bei ihm nach der verschwundenen Corinna erkundigt, erzählt er ihr von deren geplanter Fahrt nach Malibu, doch Malibu steht in Flammen. Große Waldbrände bedrohen zudem L. A., Corinna bleibt vermisst und wenig später wird ein Leichenfund in Malibu gemeldet.
Surreale Geschichte für Fans von David Lynch
Der namenlose Ich-Erzähler in David L. Ulins Roman „Die Frau, die schrie“ ist mit größter Vorsicht zu genießen. Denn was er da so alles erzählt, sinniert und fantasiert ist ein surrealer Mix der Extraklasse. Der am 15. Januar 2025 verstorbene Regisseur David Lynch hätte wohl Freude am Plot gehabt und auch wer es gerne kafkaesk mag, kann einen Versuch wagen. Man denke an „Das Schloss“, welches die Hauptfigur nie erreichen wird. So ähnlich ergeht es hier dem unbekannten Mister X. Er gerät in ein Spiel zwischen Corinna und vor allem Sylvia, doch dummerweise kennt er die Regeln nicht. Diese sind ihm auch herzlich egal, denn eine Realität gibt es ja ohnehin nicht. Die Grenzen zwischen eigener Vorstellung und Wirklichkeit verwischt der Erzähler mit Bravour, rauen Mengen von Maker’s Mark sei Dank.
Aber dennoch, was sollte ich machen? Nichts, nur den Ahnungslosen spielen und sie … was? Sie denken lassen, ich wolle sie in den Wahnsinn treiben? Aber wie trieb man jemand in den Wahnsinn, der sich bereits selber in den Wahnsinn trieb?
Der Soundtrack des Romans bildet sich aus vielen alten, namentlich genannten Songs, vorwiegend aus dem Rock’n’Roll, was der Buchtitel im Original vorwegnimmt. „Thirteen Questions Method“ ist ein Lied des legendären Chuck Berry, dessen dreizehn Fragen den Überschriften der dreizehn Buchkapitel entsprechen. Darin verstrickt sich der Held immer mehr in seinen Wahnvorstellungen und versucht hilflos herauszufinden, was es mit der Leiche und den verheerenden Waldbränden auf sich hat und welche Rolle er selbst dabei womöglich spielte.
Es war wieder Solipsismus, natürlich war es das. Doch die Tulpa war eine Herausforderung. Die Tulpa war ein Angriff. Ihre Präsenz bestätigte etwas, das ich nicht kontrollieren konnte, was ich projiziert hatte, dass ich die Quelle meines eigenen Chaos war, dass es alles mit mir zu tun hatte. Und was die Strategien zur Lösung betraf, schlug die Internetseite vor, Alkohol und allgemeine Unordnung zu vermeiden. Ich lachte und nahm einen ordentlichen Schluck meines Drinks.
Solipsismus contra Tulpa. Letztere ist eine Projektion, eine Erfindung des eigenen Geistes. Doch Tulpas existieren nicht wirklich oder doch? Der Ich-Erzähler glaubt fest daran, wobei man als Leser kaum erahnen kann, was er nun wirklich glaubt. „Die Frau, die schrie“ bewegt sich hart an der Genregrenze des Noir und begibt sich mitunter darüber hinaus. Wenn denn aber der Krimiplot gelegentlich durchbricht, dann wird es spannend. Bis zum Ende ist derweil Konzentration gefragt.
- Autor: David L. Ulin
- Titel: Die Frau, die schrie
- Originaltitel: The Thirteen Questions Method. Aus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt. Mit einem Nachwort von Chris Thornton Harding
- Verlag: Polar
- Umfang: 224 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Januar 2025
- ISBN: 978-3-910918-14-6
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