Annett Gröschner – Schwebende Lasten (Buch)

Neunzehn Zeilen auf der ersten Seite reichen, um das ganze Leben von Hanna Krause zusammenzufassen. „Dies ist die Geschichte der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause, die zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Niederlagen, zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten erlebt hat, die bis auf ein paar Monate im Berlin der frühen 1930er Jahre nie aus Magdeburg herauskam, sechs Kinder geboren hat und zwei davon nicht begraben konnte, was ihr naheging bis zum Lebensende“, steht dort. Und die Seite endet nach einigen weiteren Sätzen ganz nüchtern: „…und die rechtzeitig starb, bevor sie die Welt nicht mehr verstand.“ Ein volles Leben, zusammengefasst auf wenig Platz. Zum Glück hat Schriftstellerin Annett Gröschner in „Schwebende Lasten“ dann doch noch 278 weitere Seiten dem Leben von Hanna gewidmet.

„Schwebende Lasten“ erzählt eigentlich nur das Schicksal einer einfachen, 1913 geborenen Frau, einer, die keine Auswirkungen auf das Weltgeschehen hat, die ihr Leben lebt, überlebt und sich um ihre Familie kümmert. Eine, mit der es das Leben überhaupt nicht gut meint, denn Kriege, Verluste, ungewollte Schwangerschaften, Geldsorgen, ein nicht sehr nützlicher Ehemann und berufliche Veränderungen ziehen und zerren an Hanna – die aber mit so einem Pragmatismus, mit großer Resilienz und so authentischer Moral alles durchsteht, dass man sie innig und umfassend mögen muss.

Hanna existierte. Nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte versucht, über das Menschsein nachzudenken, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, außer dass Blumen ihr menschlicher vorkamen als ihre eigene Gattung.S. 126

Letztendlich prallen zwei Welten in den „Schwebenden Lasten“ beständig aufeinander: Die eine bitter, hart und dramatisch, die andere zart, originell und gefühlvoll. Die bodenständige Hanna hat ein intuitives Gespür dafür, welche Blumen in welcher Kombination zu welchem Ereignis passen. Tagsüber arbeitet sie in ihrem Blumenladen im „Knattergebirge“, einem verlotterten, heruntergekommenen Stadtteil in Magdeburg. Spät abends zieht sie mit einfachen, kleinen Blumensträußen durch die Kneipen und gewinnt die Männer, die ihren Lohn fast komplett versoffen haben, als Kunden – mit günstigen Sträußchen, die bei deren Ehefrauen für gut Wetter sorgen sollen. Ihr Traum aber ist es, einen Strauß mit unzähligen Blumensorten zusammenzustellen, ganz wie er auf dem Gemälde „Vaas met bloemen“ von Ambrosius Bosschaert zu sehen ist. Auftrag, Geld sowie eine Postkarte des Gemäldes erhielt sie von einem Kunden, der danach nie mehr in ihren Laden zurückkehrte.

Bei allen schlimmen Schilderungen, von Ausbombungen im Krieg, dem Tod zweier Kinder bis hin zur Pflege ihres Mannes, bleiben die Blumen immer präsent in ihrem Leben. Mal schmückt sie hoch oben im Kranführerhaus den Arbeitsplatz mit einer Topfblume, mal pflanzt sie im winzigen Grünstreifen in der Plattenbausiedlung Blumen an. Jedes Kapitel des Buches – und mag sein Inhalt noch so düster oder hart sein – beginnt deshalb mit ihren Notizen zu Pfingstrosen, Schachblume, Blaustern oder Gartentulpe. Die Außenwelt, für die sie sorgt, arbeitet und organisiert, nimmt hingegen den eigentlichen Charakter, die Innenwelt, von Hanna kaum wahr.

Über sich redete Hanna selten, es fragt auch niemand nach.S. 246

Annett Gröschner – Schriftstellerin, Journalistin, Historikerin und selbst in Magdeburg geboren – hat viele Interviews mit älteren Frauen geführt. „Die erzählen die schlimmsten Erlebnisse und lachen darüber. Und wenn man mitlacht, bleibt einem auf einmal das Lachen im Halse stecken“, erzählt sie bei einer Lesung im Literaturhaus Köln. Als sie auf Fahrten durch das Erzgebirge die vielen verlassenen Fabriken mit ihren Schildern „Schwebende Lasten“ an den Kränen sah, entstand die Idee zum Roman. „Das ist eigentlich das Leben: Man versucht alle Lasten möglichst leicht zu nehmen.“ Und nichts geringeres erzählt Annette Gröschner mit ihrem Roman: ein ganzes Leben.

Fazit:

Entstanden ist mit „Schwebende Lasten“ von Annett Gröschner ein sehr warmherziges Porträt einer Frau aus der Unterschicht, in dem die Zeitgeschichte und ihre Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Menschen ganz nebenher vermittelt werden. Es ist auch ein Frauenbuch, das zeigt, dass deren Hauptaufgabe vor allem im Funktionieren, im Überleben gesehen wird. „Ich wollte nichts Beschönigen und Hanna auch nichts Heroisches verleihen“, sagt die Schriftstellerin. Die Sprache ist dabei einfach und poetisch zugleich, die Erlebnisse sind dramatisch und alltäglich in einem. Ein Roman, der zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2025 stand – und zu Unrecht leider nicht auf die Shortlist gesetzt wurde.

Wertung: 15/15 dpt

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