Ersi Sotiropoulos – Was bleibt von der Nacht (Roman)

Der Lyriker Konstantinos Kavafis (1863-1933) gilt als einer der bedeutesten poetischen Stimmen der griechischen Literatur. In ihrem Roman „Was bleibt von der Nacht“ fängt Autorin Ersi Sotiropoulos eine kurze, aber wichtige Episode im Leben des Dichters ein.

Im Jahr 1897 verbrachte Kavafis, der noch vor seinem künstlerischen Durchbruch stand, begleitet von seinem Bruder, drei Tage in Paris. Der Aufenthalt in der französischen Hauptstadt stand am Ende einer gemeinsamen Europa-Reise. Kavafis, aus einer alten griechischen Kaufmannsfamilie stammend, die ihren Zenith längst überschritten hat, leidet unter der familiären Enge, den Erwartungen an ihn und dem ungeliebten Brotjob. Und er zweifelt an sich, seiner Kunst und seiner Sexualität, denn der noch um den eigenen Ausdruck ringende Dichter ist homosexuell.

Detailverliebt protokolliert Sotiropoulos diese drei Tage. Üppig stattet sie ihr Setting mit dem Zeitkolorit des Fin de siècle aus. Die große Historie – in Form von Zeitungsschlagzeilen präsent, bildet das Grundrauschen im Hintergrund. An Handlung passiert in diesem Roman nicht viel. Die beiden Brüder verbringen ihre Zeit im Hotel und in Restaurants. Man erinnert sich an die vorherigen Reisestationen, z.B. London oder Venedig. Man begegnet Leuten, entfernten Bekannten, Bekannten von Bekannten. Alles bewegt sich in einer zwanglsoen Unverbindlichkeit. Eine Art Schwebezustand, in der sich der Protagonist befindet, bevor er zurückkehren wird, zurück ins Elternhaus, zur dominanten Mutter und in den ungeliebten Alltag.

Die Autorin beschreibt Kavafis als einen Getriebenen, der sich der eigenen Sexualität schämt und diese nur heimlich auslebt. Als im Hotel einige Mitglieder des Ballet russes absteigen und ein junger Tänzer dabei besonders seine Aufmerksamkeit erregt, steigert sich Kavafis immer intensiver in seine Obsessionen hinein.

Sotiropoulos‘ Bericht verwandelt sich in einen athmosphärisch immer dichter werdenden Text. Dabei schont sie weder ihren Protagonisten, den sie komplett bloß stellt, noch ihre Leserschaft. Explizit inszeniert sie Kavafis‘ sexuelle Phantasien und Handlungen. In verstörenden Bildern spiegelt sie den Selbsthass eines um Orientierung ringenden Mannes.

Nicht weniger zentral kreist der junge Dichter um die Frage, wie er seine Kunst gestalten soll. Er sieht sich an einer Grenze, von der er nicht weiß, wie er sie durchbrechen kann.

                                                                                         

Verfluchte Adjektive, dachte er. Verfluchter Reim. Etwas
früher war ihm der Gedanke gekommen, dass diese ganzen Schwierigkeiten beim
Schreiben vielleicht gar nicht vom Schreiben selbst herrührten. Möglicherweise
lag es nicht daran, dass sein Talent noch roh, noch ungeschliffen war.
Vielleicht war es ein ihm eigenes, ein inneres Problem.“

Seite 221

Kavafis ringt um Selbstfindung ebenso wie um Selbstbestimmung. Beides geht Hand in Hand, von der Autorin metaphorisch durch das Thema Sexualität repräsentiert.

Inwieweit die geschilderten Erlebnisse Kavafis‘ ein Produkt der Phantasie der Autorin sind oder auch auf biografische Quellen zurückgehen, ist nicht erkennbar. Kompromißlos setzt Sotiropoulos die Provokation als ein Mittel zum Zweck ein, um ihre Leser:innen aufzuwühlen. Diese bekommen durch die Vulgarität mancher Szenen einen wirklich schwer verdaulichen Brocken zugeworfen. Leider dominiert der erotische Aspekt den Roman so stark, dass der künstlerische Bereich dahinter verblasst. Das Gesamtbild ist für mich nicht ganz so ausgewogen ausgefallen, wie es der berühmte Dichter meiner Meinung nach verdient hätte.

Trotzdem – oder vielleicht auch gerade deshalb – löst der Roman ein einmaliges Leseerlebnis aus. Der faszinierende, intensive und sinnliche Text bleibt garantiert im Gedächnis.

Der 2015 erschienene Roman wurde 2021 erstmals in deutscher Übersetzung durch Doris Wille von der Edition Romiosini dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich gemacht. Mit der Neuauflage 2025 verleiht der Berliner Kanon Verlag dem Roman eine besonders schöne Schmuckausgabe.

  • Autorin: Ersi Sotiropoulos
  • Titel: Was bleibt von der Nacht
  • Originaltitel: Τι μένει από τη νύχτα
  • Übersetzerin: Doris Wille
  • Verlag: Kanon Verlag
  • Erschienen: September 2025
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3985681792

Wertung: 10/15 dpt

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