Ein schwer zu fassender Mörder

Mai 1920. Hermann Braun sucht seit rund drei Monaten die Psychoanalytikerin Vera Albers auf, die bislang einen positiven Eindruck von ihm hatte. Bei seinem letzten Besuch an einem Samstag ändert sich dies, denn er entsetzt sie geradezu mit einer völlig unangebrachten verbalen Entgleisung. Drei Tage später erhält Vera in ihrer Praxis in Uhlenhorst Besuch von Kriminalkommissar Karl Bender, der ihr mitteilt, dass Braun mit einem Stich in den Nacken getötet wurde. Einen Tag später wird in einem Gebüsch an der Schwanenwik ein weiterer Toter gefunden. Auch er wurde in den Nacken gestochen und war mit Braun zudem bekannt. Im Großen Krieg dienten sie im gleichen Regiment. Bender und sein Partner, Kriminalassistent Abel Bernstein, stehen vor einem Rätsel. Macht hier jemand Jagd auf ehemalige Soldaten? Aber warum und vor allem wieso erst jetzt?
Johanna Schuster ist drei Mal pro Woche bei Vera in der Praxis und es stellt sich langsam heraus, dass es ihr mehr um ihren Mann Willi, der im Krieg eine entsetzliche Gesichtsentstellung erlebte und seitdem nur noch mit Maske herumlaufen kann. Johanna will daher Vera zusammen mit ihrem Mann besuchen, doch zum vereinbarten Termin am nächsten Tag erscheint das Paar nicht. Kurz darauf erfährt Vera, dass auch Willi verschwunden ist. Veras Neugier ist geweckt und sie bietet Bender an, ihr eine Analyse des Täters zu erstellen, da sie sich aufgrund ihres Berufes in andere Menschen hineinversetzen kann. Neugierig wurde auch Alma Lehmann, eine junge, noch unerfahrene Frau, die als Volontärin beim „Hamburger Bote“ angefangen hat. Die zeitung, die Veras Eltern gehört, schwächelt seit einiger Zeit und eine Mordserie könnte doch die Auflage steigern und zudem Almas Ansehen fördern. Die Zeit drängt bis zum nächsten Mord, wobei Willi Schuster in das Visier von Bender und Vera gerät. Doch ist Willi das nächste Opfer oder womöglich gar der Mörder?
Einem Kammerspiel ähnelnd
Melanie Metzenthin hat sich mit der Serie „Die Hafenschwester“ bereits eine größere Fangemeinde erschrieben und bleibt auch in ihrem neuen Roman „Die Psychoanalytikerin“ ihren bevorzugten Themen wie Medizin und Hamburg treu. Zudem gibt es ein Wiedersehen mit einigen bekannten Figuren aus „Der Hafenschwester“ in kleineren Nebenrollen.
Die Arbeit einer Psychoanalytikerin zur damaligen Zeit wird umfangreich geschildert. Die Tätigkeit war noch relativ neu und in der Regel Männern vorbehalten, so dass dies eine Gelegenheit bietet, auf die gesellschaftliche Rolle der Frau nach dem Ersten Weltkrieg einzugehen. Gleiches gilt für die Figuren der Alma und Johanna. Alle drei sind fortschrittliche, mutige Frauen, die für die damalige Zeit somit eher untypisch waren. Gleichwohl bietet dies natürlich einen interessanten Ansatz, denn es sind natürlich – dicke Überraschung (Ironie aus) – Vera und Alma die Bender auf die richtige Spur bringen. Dies allerdings erstaunlich früh; anders gesagt, das Finale zieht sich ein bisschen. Und was ist von der Auflösung selbst zu halten? Achtung, kein Spoiler, doch Abel fast es wie folgt zusammen: „Das ist so absurd, dass es schon wieder wahr sein könnte.“ Wohl eher nicht, will man dazwischenrufen, aber was soll’s? Es ist ein Roman und theoretisch könnte es ja so gewesen sein. Eine nette Pointe ist es allemal.
Die Folgen des Ersten Weltkrieges auf die Menschen in Hamburg und auf dessen Stadtbild hätten gern etwas tiefer aufgegriffen werden können. So spielt sich der kurzweilige Roman vor allem auf der Polizeiwache sowie in Veras Praxis und Johannas Wohnung ab, was das Ganze ein wenig wie ein Kammerspiel wirken lässt. In zahlreichen Gesprächen fließen, es dürfte dem Zeitgeist geschuldet sein, immer wieder Anspielungen in die aktuelle Gegenwart ein.
„Als der Krieg begann, hatten die Leute falsche Vorstellungen. Wir hatten zu lange Frieden, wir hatten vergessen, was ein Krieg bedeutet, erst recht mit solch modernen Waffen wie heute. Manchmal frage ich mich, ob lange Friedenszeiten nicht das Tor zu neuen Kriegen öffnen, weil dann nur noch die Heldengeschichten in Erinnerung sind, weil keiner mehr vom Leiden der Soldaten erzählen kann.
Erster Weltkrieg, Hamburg, starke Frauen, eine undurchsichtige Mordserie, Psychoanalyse, Einblicke in die damalige Polizeiarbeit und durchaus zwischenmenschliches prägen diesen lesenswerten Roman, der mit hoher Wahrscheinlichkeit „in die Verlängerung“ gehen dürfte. Nicht zuletzt über das Privatleben der beiden Protagonisten Vera und Bender gibt es noch einiges zu erfahren.
- Autorin: Melanie Metzenthin
- Titel: Die Psychoanalytikerin
- Verlag: Heyne
- Umfang: 384 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Oktober 2025
- ISBN: 978-3-453-29256-7
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Wertung: 10/15 dpt







