Regina Nössler – Die Putzhilfe (Buch)

Großartiges Kopfkino und Spiel mit Vorurteilen

Die Putzhilfe
© konkursbuch

Im Münsterland liegt die Gemeinde Senden, wo die dreiunddreißigjährige Franziska Oswald mit ihrem Lebensgefährten Johannes wohnt. Besser gesagt wohnte, denn an einem Mittwoch im November verlässt sie fluchtartig ihr Haus und nimmt in Münster den erstbesten Fernzug, der sie nach Berlin fährt. In einer Parterrewohnung, schäbiges Loch trifft es besser, taucht sie unter dem Namen Marie Weber unter, eine kleine Verbeugung der promovierten Soziologin vor Max Weber und dessen Frau. Doch warum lässt Franziska ihr behütetes Leben zurück und flüchtet unter falschem Namen in die Anonymität einer Metropolstadt? Einige Hämatome deuten darauf hin, dass es nicht wirklich eine Musterehe war, die sie mit Johannes, einem Kontrollfreak, führte.

Marie (Franziska) gönnt sich als einziges Vergnügen den täglichen Besuch in der Alten Nationalgalerie nebst Café im Bode-Museum, wo ihr die sechzigjährige Henny Mangold eines Tages förmlich vor die Füße fällt. Ein Schwächeanfall und obwohl Marie keinerlei Kontakt zu anderen Menschen möchte hilft sie der Dame. Diese bedankt sich mit Kaffee und Kuchen und da Marie rausrutscht, dass sie dringend einen Job sucht, fragt Henny, ob sie nicht für sie putzen möchte. Wie tief kann man als Akademikerin sinken, doch Geld muss irgendwo her. Bald erkennt sie, dass auch Henny ihre Geheimnisse hat, denn warum sollte die Professorenwitwe sonst eine Pistole in ihrem Badezimmer verstecken?

Und dann wäre da noch die fünfzehnjährige Sina, eine verwahrlost wirkende Teenagerin, deren Mutter mit sich selbst überfordert scheint. Jedenfalls kümmert sie sich nicht um ihre Tochter, die das Leben ganz allgemein und ihre eigene Situation schlicht Scheiße findet. Kein Bock auf nichts, keine Freunde, ergo Frust und Langeweile, was zu dummen Ideen führt. Da entdeckt sie eine abwesend wirkende Frau und folgt ihr. Vielleicht kann sie diese ja überfallen oder einfach mal an ihr den Frust abbauen. Pech für Marie, möchte man meinen.

Feine Psychostudie und Deutscher Krimipreis 2019

„Die Putzhilfe“ ist – wie das Buchcover – ein eigenwilliges Werk, welches im konkursbuch Verlag als „Thriller“ erschienen ist. Ausgezeichnet mit (u. a.) dem Deutschen Krimipreis – 2. Platz 2019 – bietet das Buch die Möglichkeit, sich kurz mit der Begriffsbezeichnung „Thriller“ auseinanderzusetzen. Wer hier Action oder Kapitalverbrechen sowie deren „klassische“ Aufklärung erwartet, erlebt eine faustdicke Überraschung und unterliegt womöglich einem Missverständnis. Action gibt es keine und die Polizei taucht erstmals auf Seite 291 auf. Bis dahin ist kein nennenswertes Verbrechen zu verzeichnen. Thriller zeichnen sich qua Definition durch „Spannung und Nervenkitzel“ aus und dies trifft auf „Die Putzhilfe“ durchaus zu. Warum floh Franziska/Marie? Woher stammen ihre Hämatome? Warum hat Henny eine Pistole? Vor wem hat sie Angst? Und wie geht Sina mit ihrer ganzen Wut um? Einiges läuft hier ganz entschieden falsch.

Von Beginn an spielt Regina Nössler vortrefflich mit den Vorurteilen ihrer Leserinnen und Leser. Denn natürlich startet mit Franziskas Flucht das große Kopfkino und wird, wie bei fast allen anderen Punkten, vermutlich in die falsche Richtung laufen. Jedenfalls haben es die letzten hundert Seiten, in denen endlich die Wahrheit nach und nach zu Tage tritt, in sich. Bis dahin erzählt Nössler in ruhigem Tonfall, wie sich vor allem Franziskas Leben entwickelt und auf einem Abgrund zusteuert. Dabei steigert sie sich mit Henny – unabhängig voneinander – immer tiefer in eine verstörende Situation. Die Angst Franziskas vor Entdeckung ist allgegenwärtig, denn Johannes wird ja sicher längst nach ihr suchen. Die Beziehung zu Sina hingegen erstaunt. Zunächst ignoriert sie die Jugendliche, dann wird sie von dieser attackiert, worauf man sich – einsame Seelen haben sich anscheinend gefunden – überraschend näherkommt. Doch bei aller Vorsicht kommt es zu einem verheerenden Vorfall auf dem Tempelhofer Feld und Franziskas sorgfältig aufgebautes Lügenlabyrinth droht einzustürzen.

Und Henny? Sie ist zunächst sehr besitzergreifend, hat in Marie, ihrer „Lebensretterin“, scheinbar eine Freundin gefunden, sehr zur Verwunderung ihrer Nichte Leonie, denn Henny war bis dato die Vorsicht in Person. Jetzt lässt sie sich nicht einmal einen Ausweis ihrer Putzhilfe zeigen, die ja wer weiß wer sein könnte. Wenn Leonie wüsste wie recht sie hat. Marie verwendet nicht nur einen falschen Namen, sie gibt auch an in Schöneberg zu wohnen, wo sie noch nie war und keine einzige Straße kennt. In ihrem Loch in Neukölln soll sie aber niemand finden. Ein faszinierender Drahtseilakt.

Kontrolle, Paranoia und Überforderung sind die Ingredienzien dieser vorzüglichen Psychostudie, deren subtiler Spannungsbogen einen feinen Ausnahmethriller ergibt. Dass einem die eigenen Vorurteile mehrfach einen üblen Streich spielen, kommt hinzu und sorgt umso mehr für ein überraschendes Finale. Großes Kopfkino!

Am Ende des Buches verweist Regina Nössler übrigens auf den Roman „Rendezvous mit Gestern“ von Celia Fremlin, dessen Handlung sie zu „Die Putzfrau“ inspiriert hat. Fremlin (1914-2009), einst verglichen mit Patricia Highsmith oder Margaret Millar, ist heute nahezu unbekannt, ihre Romane sind aber mitunter noch erhältlich. Kein schlechter Querverweis.

Autorin: Regina Nössler

Titel: Die Putzhilfe

Verlag: konkursbuch Verlag

Umfang: 404 Seiten

Einband: Taschenbuch

Erschienen: 4. Auflage 2022

ISBN: 978-3-88769-595-8

Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

Teile diesen Beitrag:
Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Mit dem Absenden deines Kommentars werden Benutzername, E-Mail-Adresse sowie zur Vermeidung von Missbrauch für 7 Tage die dazugehörige IP-Adresse, die deinem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, in unserer Datenbank gespeichert. E-Mail-Adresse und die IP-Adresse werden selbstverständlich nicht veröffentlicht oder an Dritte weitergegeben. Du hast die Option, Kommentare für diesen Beitrag per E-Mail zu abonnieren - in diesem Fall erhältst du eine E-Mail, in der du das Abonnement bestätigen kannst. Mehr Informationen finden sich in unserer Datenschutzerklärung.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Du möchtest nichts mehr verpassen?
Abonniere unseren Newsletter!

Total
0
Share