Dieses Buch ist ein Gesamtkunstwerk zur Geschichte des Drag und neben Autor Jake Hall müssen unbedingt im gleichen Atemzug die fabelhaften Illustrator*innen genannt werden: Jasjyot Singh Hans, Helen Li und Sofie Birkin
Wer denkt, Männer in Frauenkleidern und Make-Up seien ein aktuelle Phänomen, irrt gewaltig: Die Ursprünge dieser Kunstform gehen zurück bis ins antike Griechenland, also bis ins Jahr 400 v. u. Z. und auch im traditionellen Kabuki-Theater in Japan standen männliche Schauspieler für Frauenrollen auf der Bühne. Warum? Weil Frauen die Schauspielerei untersagt wurde – zu erotisch, zu anrüchig. Europäischen Theaterfans fällt an dieser Stelle bestimmt ein weiteres, bei uns bekanntes Beispiel ein: Auch Shakespeare ließ seine Frauenrollen von Männern spielen, was damals als normal galt, da Frauen nichts auf der Bühne zu suchen hatten. Solche Passagen wurden im Theaterskript mit der Regieanweisung: „Dressed as girl“, kurz „drag“ versehen – et voilà, ein neuer Begriff ward geboren!1
Das knallbunte und recht großformatige Hardcover mit pinkem Buchschnitt verfügt über eine starke Anziehungskraft! Und einmal in die Hand genommen, wirken die seitenfüllenden Grafiken und Illustrationen beinahe hypnotisierend. Die knallige Gestaltung ist sogar mitunter ein bisschen zu viel des Guten, da sie beim Lesen des Buchs manchmal ein Flimmern vor Augen verursacht. Aber naja, „zu viel“ gibt es ja eigentlich nicht in der Welt des Drag, oder? 😉 Da müssen wir also durch.
Neben einzelnen Strömungen des Drag die im Buch vorgestellt werden (Comedy, Beauty, Cabaret etc.) bekommen einzelne Drag Queens eine persönliche Vorstellung ihres Schaffens und typischer Charakteristiken ihrer Drag-Figur. Und wusstet ihr, dass die Kunst des Drag auch Frauen einschließt, die zu Drag Kings werden? Ein berühmtes Beispiel ist Marlene Dietrich, die mühelos von Smoking zu Ballkleid wechselte und den Begriff Genderfluidität spielerisch auf die große Leinwand brachte.
In chronologischer Reihenfolge werden Entwicklungen des Drag in der ganzen Welt aufgezeigt und selbst Fans werden hier noch einiges lernen, denn auch kulturhistorisch und politisch werden die wichtigsten Eckdaten genannt. Die „Stonewall Riots“ sind hier als eines der bedeutendsten Ereignisse zu nennen: Das „Stonewall Inn“ in der Christopher Street, New York, galt in den 60er Jahren als Treffpunkt der queeren Community. Willkürliche Durchsuchungen und Schikanieren der Gäste durch die Polizei standen auf der Tagesordnung und eskalierten im Juni 1969 in einem gewaltvollen Aufstand queerer Personen wie Drag Queens und transsexuellen Personen, die sich gegen Festnahmen und Polizeigewalt wehrten: Crossdressing galt als Straftat. Die Demonstrationen dauerten mehrere Tage an und wurden zum Ursprung der Pride-Paraden, die mittlerweile auch bei uns jährlich für queere Gleichstellung und Akzeptanz abgehalten werden. Und auch wenn die Polizeigewalt der 60er Jahre kein Thema mehr ist und wir uns am Christopher Street Day eher aufs Feiern konzentrieren, lohnt es sich doch, einen Blick zurückzuwerfen und den Ursprüngen zu gedenken.
Das Sachbuch changiert zwischen Unterhaltung und dem ungeschönten Aufzeigen politischer Missstände: Eine Mischung, die gelungen ist und das Buch spannend macht. Neben historischen Hintergründen spielen viele Referenzen zu Popmusik sowie darstellender und bildender Kunst eine große Rolle und runden das Bild ab. Ein politisches Bilderbuch über Crossdressing, könnte man sagen. Und spätestens, wenn es ab den 1980er Jahren um RuPaul, Mother of Drag der aktuellen Popkultur geht, sind wir doch alle wieder dabei, oder?
Aktuell läuft die 17. Staffel seiner weltweit bekannten Show „RuPaul’s Drag Race“, in der Drag Queens in verschiedenen Kategorien gegeneinander antreten und für Drama und Glamour sorgen. Selbst nach Deutschland hat es dieses Format vor einigen Jahren geschafft. Denn spätestens seit Heidi Klums Show „Queen of Drag“ mit Bill Kaulitz und Conchita Wurst in der Jury sind Drag Queens in all ihrer Vielfältigkeit auch hier in der Popkultur angekommen.
„Drag ist Kunst“ sollten alle lesen, die schon immer einen Blick hinter den glitzernden Vorhang der Drag-Bühne werfen wollten. Wenn euch interessiert, wie es zur Drag-Queen-Kultur der Heutezeit gekommen ist, werdet ihr dieses knallbunte Sachbuch lieben. Und natürlich freuen wir uns auch immer darüber, neue Worte zu lernen: Ballroom, Sheroe, Camp Salute und Lip-sync – taucht ein in den Jargon des Drag.
Eine große Freude!
- Autor: Jake Hall
- Titel: Drag ist Kunst
- Illustrationen: Jasjyot Singh Hans, Helen Li und Sofie Birkin
- Originaltitel: The Art of Drag
- Übersetzerin: Charlotte Milsch
- Verlag: Katalyst Verlag (heute: Zuckersüß Verlag)
- Erschienen: 20. April 2023
- Einband: Hardcover
- Seiten: 147
- ISBN: 978-3949315251
- Sonstige Informationen:
- Produktseite

Wertung: 13/15 dpt
- Auch wenn es verschiedene Meinungen gibt, woher der Begriff „Drag“ ursprünglich kommt, ist mir persönlich diese Erklärung zur Herkunft des Begriffes am liebsten. [↩]








