Stefan Bachmann – Die Seltsamen (Buch)


Stefan Bachmann - Die Seltsamen (Buch) Cover © DiogenesIrgendwo zwischen Steampunk, Magie und klassischer Fantasy angesiedelt, wähnt sich der Leser in “Die Seltsamen” rein stilistisch im England des mittleren bis späten 19. Jahrhunderts, zu Queen Victorias Zeiten, wobei ebenfalls latent futuristische Elemente mit in dieses märchenhafte Werk einfließen und so eigentlich gar nicht exakt festgelegt werden kann, in welcher Epoche das im Original “The Peculiar” betitelte Buch nun tatsächlich spielen mag.

Die gewöhnlichen Menschen in England fristen gemeinsam mit Kobolden, Gnomen und Elfen ein halbwegs harmonisches Dasein, doch die bei allen nicht sonderlich beliebten Feenwesen haben sich vor einiger Zeit durch die Öffnung eines Portals dennoch auf der Insel ausgebreitet – das sorgte für erbitterte Kämpfe. Dennoch fanden manche Feenwesen mit Menschen zusammen, und deren Abkömmlinge werden sowohl von der einen als auch von der anderen Seite geächtet und gehasst. Aus diesem Grund haben sich besonders die Mischlinge, “Die Seltsamen”,  in die Feenslums des kleinen Städchens Bath zurückgezogen.

Dort lebt auch der dreizehnjährige Mischlingsjunge Bartholomew Kettle, der sich selbst abgrundtief hässlich findet – auch seine Schwester Hettie scheint keine Schönheit zu sein. Da ihre Menschenmutter – der Feenvater verließ die Familie vor langer Zeit – den beiden untersagt, sich draußen blicken zu lassen, haben sie beide keine Freunde. Doch dass sie sich nicht erwischen lassen sollen, hat auch andere Gründe, denn offenbar wird auf die Mischlinge Jagd gemacht – sie verschwinden auf rätselhafte Weise. Als auf einmal eine mysteriöse Frau in einem pflaumenfarbenen Kleid in den Slums von Bath auftaucht, wird Bartholomew Zeuge, wie urplötzlich schwarze Federn durch die Luft wirbeln und die Frau mitsamt eines Seltsamen verschwindet. Bei seiner Beobachtung durch sein Zimmerfenster stellt er sich nicht allzu geschickt an und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich. Fortan wird ihm klar, dass auch er und seine Schwester sich nicht mehr in Sicherheit wiegen können.

Der Leser erfährt früh, dass der machtbesessene Justizminister Lickerish nicht nur die Tötung sämtlicher Mischlingskinder veranlasst, sondern obendrein einen erneuten Krieg zwischen Menschen und Feenwesen heraufbeschwört, indem er das Portal zur Welt der Feen wieder zu öffnen beabsichtigt. Das Verderben ist demnach noch näher, als der junge Kettle ahnt.

Im zweiten, parallel zum ersten verlaufenden Handlungsstrang , lernt der Leser den jungen Londoner Parlamentsabgeordneten Arthur Jelliby kennen, der ein zwar feiner Kerl, gar ein wahrer Gentleman ist, doch eher zu den lethargischen, zuweilen etwas schusseligen Vertretern seiner Zunft zählt. Als aus der Themse nach und nach tote Mischlingskinder geborgen werden, kehrt langsam Unruhe in London ein, und spätestens als Jelliby von einer rätselhaften Frau um Hilfe gebeten wird, nimmt er instinktiv die Fährte auf, die er daraufhin wittert. Er spürt das aufkommende Unheil, und sein Gefühl führt in nach einiger Zeit auch gen Bath – und zu Bartholomew. Beiden wird klar, dass sie nur gemeinsam gegen das drohende Unheil kämpfen können, für welches Lickerish verantwortlich zeichnet.

Bedenkt man, dass der 1993 in Boulder/Colorado geborene, heute in der Schweiz lebende Autor Stefan Bachmann bereits mit 16 Jahren dieses Buch, für das er bei seiner zwei Jahre später erfolgten Veröffentlichung in den USA euphorisch gefeiert wurde, geschrieben hat, kann man nur staunen, mit wie viel Talent er in bereits jungem Alter gesegnet ist, zumal seine Phantasie fürwahr beeindruckend ist, ebenso seine Fähigkeit, die Story mit so viel Wortgewalt und Komplexität auszustatten.

Doch so sehr sich Bachmann auch um Originalität bemüht (mechanische, feingliedrigste Vögel übermitteln Nachrichten), finden sich gelegentlich doch sehr starke Parallelen zu Charles Dickens’, H. G. Wells’, Charlotte Brontës und C. S. Lewis’ literarischen Werken wieder, ebenso zu Joanne K. Rowlings weltbekannter Magie-Heptalogie – es genügt nicht immer, Vorhandenem eine neue Optik überzustülpen (wie etwa bei Feen, die in Bachmanns Lektüre extrem unansehnlich sind). Was bei “Harry Potter” die Brieftauben sind, sind bei “Die Seltsamen” die Metallvögel, was dort das Halbblut ist, ist hier ein Seltsamer – die weitläufig im Journalisten- und Bloggerdschungel angestellten Vergleiche verwundern also nicht, vielmehr werden sie mit zunehmender Zeit automatisch aus dem Hinterkopf nach vorn geholt. Letztendlich werden hier zu gerne Klischees mit einer neuen Geschmacksnote versehen und anschließend wiedergekäut.

Das ist zwar nicht so dramatisch, wie es sich lesen mag, denn es gibt gerade im Fantasy- und Steampunksektor unfassbar viele Trittbrettfahrer, die mit uninspirierter Kost und von wirtschaftlichen Interessen gelenkter literarischer Trittbrettfahrerei den Buchmarkt verstopfen, sodass es für den Anhänger dieses Genres zu einer schier endlosen Suche nach der qualitativ hochwertigen Nadel im Heuhaufen ausarten kann. Doch man sollte bei aller Überraschung darüber, dass ein Teenager ein Werk wie “Die Seltsamen” zu verfassen in der Lage ist, bei allem Grünschnabelbonus, die Kirche im Dorf lassen, denn nimmt man die Juniorbrille einmal ab und atmet tief und ruhig durch, muss man feststellen, dass dieses verlagsuntypisch in dunkelroter Farbe gehaltene Buch zwar klar über dem qualitativen Durchschnitt liegt, aber weit von einem Überfliegerstatus entfernt ist und seinem Hype nicht gerecht wird.

Ein Grund ist beispielsweise, dass so manch Verworrenes zwar gut durchdacht erscheint, letztendlich allerdings auch ein wenig zu konstruiert. Und ebenso wirkt das ein oder andere, nicht zuletzt deswegen, weil in beiden Genres (oder in diesem Genregemisch?) schon hunderttausende von Exponaten auf die Welt losgelassen wurde, etwas vorhersehbar. Mit gutem Willen kann man “Die Seltsamen” demnach eher weniger als Revolution oder frischen Wind in diesem Winkel der Welt der Bücher titulieren, sondern eher als eine Hommage an die Inspiratoren.

Was den Lesegenuss allerdings deutlich trübt, ist die oftmals fragwürdig erscheinende Übersetzung, denn wenngleich vieles in diesem Buch bewusst auf alt getrimmt ist und entsprechende deutsche Begriffe gewählt werden müssen, beschleicht einen das Gefühl, dass der Übersetzer nicht ganz bei der Sache war. So wurde aus dem ‘cabinet’ statt einer Vitrine oder eines Schränkchens kurzerhand ein Kabinett, und aus dem ‘water closet’ ein Wasserklosett. Letzteres ist zwar vom Sinn her korrekt, doch wirkt es zusammen mit manch anderem Schnitzer in seiner Gesamtheit sehr holprig und mitunter irritierend, da diese meist dem phonetisch am nächsten gelegene deutsche Wortwahl keinen Sinn ergeben will, auch nicht im Kontext zum Rest der Geschichte. Wenn dann noch so manche Lapsūs hinzukommen wie etwa ‘Zwiebelbart’ statt Zwirbelbart, wird man oftmals unangenehm aus dem Geschehen dieses atmosphärisch durchaus vereinnahmenden Romans gerissen. Bleibt diesbezüglich nur zu hoffen, dass in der finalen Version (vorliegendes Buch ist das Vorab-Arbeitsexemplar für Rezensionszwecke) solcherlei No-gos ausgebügelt wurden.

Dennoch darf man gespannt sein, wie der direkt an “Die Seltsamen” anschließende Nachfolger (Originaltitel: “The Whatnots”) ausfällt und ob Stefan Bachmann an sich selbst gewachsen ist – denn es gab in der Vergangenheit bereits so manche Buchreihe, die erst mit der Zeit Fahrt aufgenommen hat.

Cover © Diogenes Verlag

  • Autor: Stefan Bachmann
  • Titel: Die Seltsamen
  • Teil/Band der Reihe: 1
  • Originaltitel: The Peculiar
  • Übersetzer: Hannes Riffel
  • Verlag: Diogenes
  • Erschienen: 26.02.2014
  • Einband: Hardcover, Leinen
  • Seiten: 368
  • ISBN: 978-3-257-06888-7
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite beim Verlag

Wertung: 8/15 dpt


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