Lee Millers Biographie liest sich wie das Drehbuch zu einem (kitschigen) Hollywood-Melodram. Der Kurzabriss: Im Alter von neunzehn Jahren entgeht sie 1926 als angehende Studentin der “Art Students League” knapp einem Auto-Unfall. Der Mann, der sie vor der Kollision bewahrt, ist Condè Nast, der Herausgeber der “Vogue” und des “Vanity Fair”. Er bietet der attraktiven Miller einen Vertrag als Model an. Sie willigt ein und landet im Lauf ihrer Modelkarriere in Paris. Dort wird die künstlerisch interessierte und talentierte Lee Miller Mitarbeiterin und zeitweilige Lebensgefährtin Man Rays, lernt später Pablo Picasso und andere Künstler kennen und schätzen. Picasso fertigt sechs Porträts von Miller an, in “Le Sang d’un poète” (“Das Blut eines Dichters”) von Jean Cocteau hat sie ihren einzigen Filmauftritt als lebendig werdende Statue. Sie bereist als Fotografin die Welt, landet schließlich (der Liebe wegen) in London und arbeitet zum Ende des Zweiten Weltkriegs als eine der wenigen Kriegsberichterstatterinnen.
Für die amerikanische “Vogue” verfasst Lee Miller Artikel und schießt Fotos. Unweit der Front, zwischen Lazaretten, Kriegshandlungen, befreiten Arealen und in Konzentrationslagern. Sie ist mit dabei, als Hitlers “Adlerhorst” in Berchtesgaden eingenommen wird. Ein bekanntes Foto zeigt die scheinbar entspannte Lee Miller in Hitlers Badewanne sitzend.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verliert sie kein Wort mehr über ihre Zeit als Korrespondentin, erst nach ihrem Tod bekommt Sohn und Nachlassverwalter Antony Pentrose Einblicke in Millers Tun zwischen 1944 und 1945. Er sammelt das gefundene Material, setzt die Fundstücke zusammen, ergänzt so weit möglich Fehlendes, Zensiertes und Fehlerhaftes und stellt ein Werk aus Reportagen und Fotos zusammen, das jetzt unter dem Titel “Krieg – Mit den Alliierten in Europa 1944-45” auf Deutsch erschienen ist.
Ob Lee Miller dies gutheißen würde, darf bezweifelt werden, denn insbesondere unter dem Eindruck ihrer Erlebnisse in den gerade befreiten Konzentrationslagern Buchenwald und Dachau, hatte die empathische Frau Zeit ihres Lebens für die Deutschen nichts übrig. Konsequenterweise werden sie in ihren Artikeln durchweg als “Hunnen” und “Krauts” bezeichnet. Kein Mitleid mit den besiegten Schlächtern und vorgeblich unwissenden Mitläufern.
Somit sollte klar sein, dass die “Vogue”-Leser keine kleinen, beruhigenden Artikelchen, Durchhalteparolen und Kurzbiografien siegreicher Helden erwartet, erzählt aus der relativen Sicherheit befreiter Gebiete, aus dem Hinterland, fernab der Front. Im Gegenteil. Lee Miller begibt sich in Kampfgebiete, in provisorische Lazarette unweit einschlagender Granaten. Zwar gibt es auch Berichte aus befreiten Zonen, Nachrichten über Prominente wie Picasso, Colette, Fred Astaire, Marlene Dietrich und Paul Eluard sowie eine Rehabilitation des zu Unrecht geschmähten Maurice Chevalier, doch ihr eigentliches Augenmerk ist dort, wo Zerstörung herrscht (wie bei der schadensreichen Befreiung St. Malos), Leichenberge sich türmen und zaghaft erste Schritte ohne nationalsozialistische Okkupanten gegangen werden. Ebenso wirft sie einen verächtlichen Blick auf das Schicksal von Kollaborateuren, ehemaligen Freundinnen der deutschen Besatzer und Unverbesserliche.
Dabei weidet sie sich nicht am Grauen und der Gewalt, lässt deren Allgegenwart aber so beiläufig wie plastisch auferstehen. Wie in jenen Momenten, als sie über eine abgetrennte Hand stolpert, die sie in Eile nur achtlos beiseite werfen kann oder in einem Gemisch aus Bauschutt und Eingeweiden ausrutscht.
Durch die Texte, die weit mehr Raum einnehmen als die Fotos, zieht sich ein fotografischer Blick, der die Zerstörung von Strukturen, von Material und Symbolen als Teil einer kompletten Katastrophe begreift, deren niederschmetternder Zenit der Anblick massenhafter geschundener Körper und aufgehäufter Leichen in den Konzentrationslagern ist. Der Anblick gestreifter Schlafanzüge wird in Lee Millers weiterem Leben ein Horrorszenario bleiben.
Umgekehrt gilt das im Positiven auch. Selbstgemachte Mode, provisorische Vorhänge und die gemeinsame Einnahme – nahezu ungenießbaren – Essens werden zu einem sachten Vorantasten in eine Zeit nach dem Krieg interpretiert.
Lee Miller schont die Leser und vor allem Leserinnen der “Vogue” nicht, ergeht sich nicht in überkandidelten Anekdoten und Jubelarien angesichts des Kriegsgewinns, stattdessen flicht sie kleine, verhalten freundliche Alltagsbeobachtungen ein, schreibt sich gelegentlich unbedarft den Groll von der Seele und schimpft wie ein wütender Rohrspatz.
Die Fotografien dazu erscheinen ähnlich unspektakulär, dokumentarisch, enthüllen ihre künstlerische Kraft oft erst auf den zweiten Blick. Nur manchmal, wenn es um die verhassten “Krauts” geht, hält Miller gnadenlos drauf, mit einer erschütternden Radikalität. Man kann sie verstehen.
“Krieg – Mit den Alliierten in Europa 1944-45” ist kein spekulativer und sensationsheischender Reißer aus den letzten Kriegswirren, sondern der facettenreiche Blick einer hellwachen Frau – auch unter heftigem Alkoholeinfluss. Betont sie recht häufig und auch dies ist äußerst nachvollziehbar – auf menschenverachtenden Wahnsinn, Tod und Zerstörung. Und ein kleiner Hoffnungsschimmer, ganz an den Rändern.
Ein hervorragendes Vorwort lieferte der Fotograf, Kollege und Freund Lee Millers David E. Scherman, während das ebenso lesenswerte Nachwort von Herausgeber Klaus Bittermann stammt, der sich Miller mit viel Einfühlungsvermögen von deutschsprachiger Seite aus nähert.
Leider wurden etliche Fotografien in den Text eingebunden, anstatt allen Bildern Hochglanzpapier zu spendieren. Kleines Manko einer ansonsten höchst gelungenen Edition.
Cover und Fotos © Edition Tiamat
- Autor: Lee Miller
- Titel: Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944-1945. Reportagen und Fotos
- Originaltitel: Lee Miller’s War 1944-1945.
- Herausgeberin: Antony Penrose
- Übersetzer: Andreas Hahn und Norbert Hofmann
- Verlag: Edition TIAMAT
- Erschienen: September 2013
- Einband: Hardcover
- Seiten: 271
- ISBN: 978-3-89320-178-5
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