Can Dündar – Lebenslang für die Wahrheit (Buch)


Can Dündar - Lebenslang für die Wahrheit (Cover © Hoffmann & Campe)Plädoyer für einen kritischen und unabhängigen Journalismus

Wer die türkische Politik nicht zuletzt seit Erdoğans Antritt als Präsident verfolgt hat, für den dürfte Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der türkischen regierungskritischen Zeitung ‘Cumhuriyet’, kein Unbekannter sein. Seine Leitartikel wurden auch in Deutschland diskutiert – und nicht zuletzt der von ihm verantwortete und eingeleitete Artikel über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an syrische Extremisten machten Dündar europaweit bekannt. Nicht allein seiner journalistischen Integrität wegen, sondern auch, weil er aufgrund seiner Berichterstattung wegen angeblicher Spionage und des Verrats von Staatsgeheimnissen angezeigt und verhaftet wurde. Es folgte der Prozess, bei dem Erdoğan auch als Nebenkläger auftrat und „lebenslänglich“ forderte.

Das Urteil ‘sechs Jahre Gefängnis’ wird jedoch wenige Monate später vom türkischen Verfassungsgericht aufgehoben. Ein rechtskräftiges Urteil liegt noch nicht vor. Nach einem Attentat auf seine Person unmittelbar vor dem Gerichtsgebäude flieht Dündar nach Europa, wo er heute lebt und weiterhin für verschiedene europäische Medien Kommentare und Artikel schreibt. Er selbst spricht allerdings nicht von Flucht. Dieser Hinweis, auf den Dündar in vielen Interviews selbst sehr viel Wert legt, sei an dieser Stelle eingepflegt.

Während seiner Haft schrieb er an ‘Lebenslang für die Wahrheit. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis’, in dem er die Zeit seiner Haft reflektiert und kommentiert. Einen ebenso großen Stellenwert nehmen auch seine Rechtfertigung für die Artikel rund um die Waffenlieferungen und sein Selbstverständnis als kritischer Journalist ein. Die Zustände in dem Gefängnis, die Bedingungen, die eine Isolationshaft mit sich bringen, aber auch die gefühlte Ohnmacht gegen einen Staat, der sich seine eigene Wahrheiten schafft und in dem eine nachvollziehbare Gerechtigkeit selbst vor Gericht nicht selbstverständlich ist, schildert Dündar mit einer erschreckenden Nüchternheit aber auch mit einer Prise Humor. Allein die Verwendung des Wortes „lebenslang“, mit der er eine Umdeutung der ihm drohenden Strafe vornimmt, deutet dies an.

Vieles in ‘Lebenslang für die Wahrheit’ klingt sehr reflektiert, selbst in den Stellen, in denen er seiner Verzweiflung freien Lauf lässt – und doch gibt es für den Rezensenten eine Passage, die zwar nur sehr kurz, dafür aber in Erinnerung geblieben ist: Die Stelle, in der er vom gescheiterten Putsch gegen Erdoğan schreibt. Zwar schildert Dündar immer wieder das wechselhafte Verhältnis zwischen Erdoğan und dem Prediger Gülen, doch ohne weitere Begründung benennt Dündar ihn als Drahtzieher des Putsches. Es mag so sein, Gülen wird von einigen beschuldigt. Und dennoch würde sich sicher so mancher Leser über eine nachvollziehbare Begründung für diese Behauptung freuen. Zumal Dündar dies über weite Strecken bei anderen Themen durchaus leistet – hier jedoch bleibt es bei einer apodiktischen Verurteilung.

Can Dündar zeichnet ein vielschichtiges zumeist aber düsteres Bild vom Innenleben der türkischen Politik. Es geht ihm in seinem Buch nicht darum, mit Erdoğan und der politischen Klasse abzurechnen. Es ist vielmehr ein leidenschaftliches Plädoyer für Meinungsfreiheit und einen wehrhaften, objektiven und wahrhaftigen Journalismus. Dazu gehört auch, dass Can Dündar die Politik und Politiker der Europäischen Union kritisiert. Natürlich ist die Türkei inzwischen so weit davon entfernt, Mitglied der EU zu werden wie noch nie, und natürlich ist die Türkei ein souveräner Staat, doch die Reaktionen auf die Inhaftierung Dündars und seines Herausgebers im Speziellen und den Stand der Meinungsfreiheit im Allgemeinen, waren und sind extrem zurückhaltend. Selbst vor dem nicht ganz transparenten Flüchtlingsdeal mit der Türkei waren auch von deutscher Seite kaum deutliche Worte über Erdoğans Umgang mit regierungskritischen Medien vernehmbar. Es schien, die Bundesregierung sehe hierin keine bedeutenden oder gravierenden Verstöße, die Anlass zur Sorge gäben. Ähnliche Entwicklungen wie in der Türkei gibt es ja auch in Polen, Ungarn – und auch in Bayern gibt es neben offenen Sympathiebekundungen vor allem für Ungarns Regierungschef, der in regelmäßigen Abständen regierungskritische Zeitungen schließen lässt, verstärkt Äußerungen, die von einer „Ordnung“ handeln, in denen der kritische Journalismus nicht selbstverständlich dazugehört.  

Dass dies Dündar Anlass zur Sorge gibt, ist nachvollziehbar – der Rezensent schließt sich dieser Sorge an. Insofern ist ‘Lebenslang für die Freiheit’, bei allem Pathos, das in dem Titel mitschwingt, ein wichtiges Buch, das aufzeigt, wozu kritischer Journalismus in der Lage ist, wo er bedroht wird – und dass es Menschen braucht, die ihn und die Meinungsfreiheit verteidigen. Umso mehr, als inzwischen die Tageszeitung Cumhuriyet in der Türkei verboten wurde und Can Dündar ein weiterer Prozess wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung droht.

Cover © Hoffmann und Campe

Wertung: 12/15 dpt


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