Nienke Jos – Die Einsamkeit der Schuldigen – Teil 1 (Buch)


Nienke Jos - Die Einsamkeit der Schuldigen (Cover © Nienke Jos)«Und dann immer wieder ganz unerwartet die Realität. Sie poppte auf wie eine Treibboje, die man unter Wasser gedrückt hatte.»

Die Realität ist manchmal nur schwer zu ertragen. Wie gerne würde man ihr hin und wieder entfliehen?! Genauso geht es auch den sieben Schuldigen im Debüt-Roman von Nienke Jos.

Mountainbike-Guide Junia lebt aus dem Koffer und nur von Saison zu Saison. Der Wunsch nach einem festen Wohnsitz und einem Partner wird immer lauter. Dann lernt sie Thies kennen und alles scheint sich zum Guten zu wenden. Aber auch der neue Mann an ihrer Seite hat sein Päckchen zu tragen. Während die beiden versuchen, ihren Weg in ein gemeinsames Leben zu finden, verschwindet nach einer von Junias Mountainbike-Touren eine Teilnehmerin spurlos. Kurz zuvor hatte die Vermisste, Ann Beck, Junia noch ihr Herz ausgeschüttet.

Weit entfernt in Wiesbaden träumt ein namenloser Mann davon, eine Frau zu entführen und zu besitzen, während der Psychiater Theodor Stein sich von einer Fremden verfolgt fühlt, die plötzlich aus dem Nichts auftaucht und ihm immer wieder auflauert.

Wie hängen all diese Schicksale zusammen? Tun sie das überhaupt? Darüber lässt uns die Autorin lange im Unklaren. Die Handlung ist gerade zu Beginn sehr verworren. Schon der Anfang – zwei verschiedene Prologe – schüren einerseits die Neugier und sorgen andererseits für Verwirrung. Nachfolgend werden gleich mehrere Geschichten parallel erzählt, Zeitsprünge inklusive. Am unangenehmsten ist es dabei, dem Namenlosen zu folgen. Er plant seine so sehr gewünschte Tat minutiös, stellt alle Eventualitäten zur Diskussion mit sich selbst und ergeht sich dabei bis ins Kleinste in seinen Fantasien. Er stellt sich jede nur mögliche Begebenheit, jedes Gespräch mit Menschen, die womöglich seinen Weg kreuzen könnten, vor. Selbst deren Aussehen beschreibt er en Detail. Das ist teilweise etwas irritierend und ein wenig nervtötend, letztendlich gewährt aber genau das einen sehr tiefen Einblick ins Innere des Gestörten.

Auch, wenn seine Schuld zunächst am offensichtlichsten ist, trägt doch jeder der Charaktere ein düsteres Geheimnis in sich. Bei dem einen ist es vielleicht eher unbedeutend, beim anderen erschreckend – allen gemein ist aber, dass jeder von ihnen nicht der ist, der er nach außen hin zu sein scheint. Bis zu einem gewissen Grad trifft das wohl auch auf jeden von uns zu. Aus diesem Grund geht das Debüt der Autorin auch so nah – man wird mit der Frage konfrontiert, welche Schuld man selbst in sich trägt, in welcher Situation man sich selbst wünscht, anders gehandelt zu haben und in welchen Abgrund man selbst vielleicht schon einmal geblickt hat. Es geht auch darum, was Schuld überhaupt bedeutet, wo sie anfängt, welche Verantwortung wir uns selbst und anderen gegenüber haben. Und noch etwas zeigt dieses Buch auf: Jeder ist mit seiner Schuld allein und vor allem selbst dafür verantwortlich, wie er mit dieser Schuld umgeht. Der Titel hätte kaum passender gewählt sein können.

Was steckt hinter der Fassade? Was geht wirklich in den Menschen vor? Wer sind die Menschen, die wir zu kennen glauben? Die Autorin spielt mit diesen Fragen und zeigt uns in „Die Einsamkeit der Schuldigen“ sehr deutlich, dass man anderen im Endeffekt nur vor den Kopf gucken kann.

Im Thema an sich kann sich also wohl jeder ein Stück weit wiederfinden. Was die Identifikation mit den Charakteren betrifft, wird es da schon schwieriger. Die Figuren – die häufig eher ungewöhnliche Namen tragen – bleiben auf Distanz. Obwohl wir sehr viele Details erfahren und tief in ihre Köpfe schauen, sind sie allesamt nur schwer greifbar. Einige von ihnen sind einem regelrecht zuwider, man kann ihre Handlungen, Gedanken und Beweggründe oft nicht nachvollziehen, mit anderen hat man Mitleid und wünscht ihnen einen positiven Ausgang der Ereignisse. Als Leser fühlt man sich insgesamt eher wie ein stiller Beobachter, der versucht, die Zusammenhänge zu begreifen. Kein leichtes Unterfangen! Irgendwann schleichen sich dann aber doch leise Ahnungen ein. Ja, manches lässt sich vermuten, anderes bleibt aber bis zur endgültigen Auflösung im Dunklen.

Trotz der fast 600 Seiten und der labyrinthischen Handlung lässt sich das Buch dank des klaren, flüssigen Schreibstils erstaunlich gut und zügig lesen. Die zahlreichen Details und die teils sehr seltsamen Gedankengänge der Charaktere bremsen einen zwar hin und wieder ein wenig aus, die Autorin versteht es aber hervorragend, die Spannung aufrecht und ihre Leser bei der Stange zu halten. Man will unbedingt wissen, was es mit diesen auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Geschichten auf sich hat. Wie hängen sie bloß zusammen? 

Das mysteriöse Verschwinden von Ann Beck, die Einblicke in die verstörenden Gedanken des Wahnsinnigen und der von einer Stalkerin verfolgte Theodor verleihen dem Roman Thrillerzüge, zugleich ist er dramatisch und emotional. Die Einzelschicksale stehen hier im Vordergrund – bis sich das große Ganze offenbart.

Fazit: Mit „Die Einsamkeit der Schuldigen“ ist Nienke Jos ein überaus ungewöhnliches Debüt gelungen, das nachwirkt. Die Autorin stiftet eine Menge Verwirrung, schickt uns mit ihrem Roman in ein undurchsichtiges Labyrinth, aus dem wir nur schwer den Ausweg finden. Die Handlung überzeugt mit Tiefgang und lässt uns während und nach der Lektüre über das Thema Schuld und das wahre Ich der Menschen nachdenken. Die Charaktere bleiben allerdings auf Distanz, wir werden nicht zu einem Teil von ihnen, sondern beobachten sie eher aus einiger Entfernung. Dennoch rufen sie beim Lesen viele Emotionen – insbesondere unangenehme – hervor. Zum Schluss steht die Frage im Raum, was uns im zweiten Teil erwartet. Denn dies war nur der erste Streich der einsamen Schuldigen. Wie mag es wohl weitergehen? Welche Abgründe werden noch aufgedeckt? Wir werden es 2018 erfahren.

Ein Tipp: Am Ende noch mal die Prologe lesen, denn erst dann erschließt sich ihr wahres Ausmaß.

Cover © Nienke Jos

  • Autor: Nienke Jos
  • Titel: Die Einsamkeit der Schuldigen
  • Teil/Band der Reihe: 1 von 2
  • Verlag: Selbstverlag
  • Erschienen: 01/2017
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 592
  • ISBN: 978-3-00-055384-4
  • Sonstige Informationen:
    Autorenseite 
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 11/15 menschliche Abgründe


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