Angelo Tijssens – An Rändern (Buch)


Ein junger Mann kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück. Er sucht seine erste Liebe auf. Es kommt zu einer zärtlichen Liebesnacht, die die Trennung der beiden jedoch nur erneut besiegelt. Der einstige Geliebte wird sich nicht zu ihm bekennen. Die Begegnung wird zum Auftakt schmerzhaften Erinnerns.

Man erfährt: Die Mutter des Protagonisten ist gestorben, die Beerdigung hat bereits stattgefunden und dem Sohn wird nun die letzte Habe überreicht. In Rückblicken, die die Chronologie der Erzählung immer wieder leise unterbrechen, wird die Geschichte des Mannes erzählt. Das Bild einer schrecklichen Kindheit entsteht. Die Mutter war Alkoholikerin und hat den Sohn misshandelt, sowohl seelisch als auch körperlich.

Der Protagonist trägt seinen Schmerz durch die Erzählung wie eine zweite Haut. Ein Schmerz, der sich ihm in den Weg stellt und ihn der Gegenwart entrückt.

Eine Stille breitet sich zwischen uns aus. Ich hätte nicht herkommen dürfen, denke ich. Ich hätte die Dinge und die Zeit auf sich beruhen lassen und mich nicht auf die Suche nach den Resten begeben sollen, denn was weg ist, lässt sich nicht so einfach zurückholen.

Tijssens Erzählen gleicht einem Abtasten. Seine Sätze sind schnörkellos und direkt, es gibt keine Grenzen zwischen derb und zart, zwischen schön und furchtbar. Alles ist in gleichem Maße wichtig, der explizit beschriebene Sex ebenso wie die zärtlichen Gesten, die erinnerten seltenen Glücksmomente ebenso wie die grausamen Schilderungen der erlittenen Misshandlungen und Beschimpfungen.

Der Autor lenkt den Blick der Lesenden direkt ins Innere seines Protagonisten, den er in der Ich-Perspektive selbst zu Wort kommen lässt. Der Erzähler ist wie ein Filter, durch den die Leser:innen das Geschehen aufnehmen. Sein Empfinden ist der einzige Kompass, um dem Text zu folgen. Es gibt keine Seitenzahlen, an denen man sich orientieren kann. Alles steht in Relation zum Innenleben der Hauptfigur.

Über allem liegt eine große Stille. Das Trauma hat den jungen Mann zum Schweigen gebracht. Seine Opfer-Scham lässt ihn seine Leidensgeschichte verheimlichen. Er hat das Geheimnis so sehr verinnerlicht, dass es ihm zur Natur geworden ist, zu einem Gefängnis, das er selbst mit sich herumträgt.

Jahrelang wirst du dich fragen, ob er es wusste, ob er es geahnt hat, die Angst, ob er sie sehen konnte oder riechen. Er, der Rest der Welt, alle hätten es wissen müssen oder zumindset vermuten, aber er hat nichts gesagt und jetzt, wieder ein paar Jahre später, willst du dich selbst anbrüllen: Sag es, erzähl es ihm, bitte um Hilfe. Aber du lügst, wie so oft, natürlich lügst …

Doch trotz der tiefen Traurigkeit geht von der Erzählung ein deutlicher Trost aus. Die Konfrontation mit der Vergangenheit initiiert ein Loslassen und Selbstakzeptanz. Für den Protagonist taucht an den Rändern seiner Existenz die Möglichkeit von Freiheit auf. Tijssens entlässt seine Figur in ein offenes Ende. Die Grenzen der erinnerten Vergangenheit scheinen überwindbar geworden zu sein.

Tijssens gelingt das Kunststück durch seinen ebenso zarten wie kraftvollen Text die Folgen eines schweren Traumas einfühlsam in Szene zu setzen. Er lässt uns die innere Zerissenheit des ehemaligen Opfers spüren, das zwischen Scham und dem Wunsch nach Rettung, in Einsamkeit versinkt. Stefanie Ochel hat Tijssens außergewöhnliche Prosa behutsam ins Deutsche übertragen, ohne dass dabei etwas verloren gegangen zu sein scheint.

Es ist eine dieser besonderen Lektüren, die man als Leser:in nicht anders als einen großen Glücksfall beschreiben kann. Zeigt der Text doch nicht weniger als die Überwindung einer großen Verzweiflung durch die unzerstörbare Kraft des Lebens – zum Ausdruck gebracht durch die makellose Schönheit der Sprache.

  • Autor: Angelo Tijssens
  • Titel: An Rändern
  • Originaltitel: De randen
  • Übersetzerin: Stefanie Ochel
  • Verlag: Rowohlt Buchverlag
  • Erschienen: Februar 2024
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 128 Seiten
  • ISBN: 978-3498004002

Wertung: 13/15 dpt


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