Die Debattenkultur ist im Ar… Oder doch nicht? Man darf ja nichts mehr sagen, sagen manche. Und andere finden, dass man genau diesen Satz eigentlich nicht sagen dürfe, weil er doch so nicht stimme. Es ist kompliziert. Und genau das zeigt uns Scheerer durch ihren clever konstruierten Roman.
Hochschuldozentin Nora Rischer sitzt gerade bei ihrer Frauenärztin auf dem gynäkologischen Stuhl als ihr auf dem Handy eine alarmierende Nachricht angezeigt wird. In ihrem Seminar soll es zu einem rassistischen Vorfall gekommen sein. Sofort beginnt sich ihr Gedankenkarussell zu drehen. Hat sie am Ende selbst etwas Rassistisches gesagt, als sie einige ihrer Studierenden aus China für deren schlechte Deutschkenntnisse kritisierte? Dabei ist Rischer doch wirklich immer darauf bedacht, niemanden zu diskriminieren. Gerade sie, als offen homosexuell lebende Frau mit Kinderwunsch, ist doch selbst permanent Anfeindungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Ist es da nicht absurd ausgerechnet ihr Rassismus vorzuwerfen?
Scheerer inszeniert ihre Handlung quasi in Echtzeit. Von der ersten Textnachricht auf dem Handy bis zum ausgewachsenen medienwirksamen Skandal vergehen nur wenige Stunden, die die Protagonistin zunächst in der Praxis, dann auf dem Weg in die Universität verbringt.
Mit bitterem Humor zeichnet Scheerer die Mechanismen im Hochschulbetrieb, der wie ein Brennglas gesellschaftliche Trends potenziert. Mit der Kraft eines Brandbeschleunigers befeuern die Sozialen Medien den vermeintlichen Skandal und lassen ihn zum Flächenbrand werden. Im Nullkommanichts ist die Presse informiert und Rischer muss ernsthaft um ihre Karriere fürchten.
Es ist natürlich Ironie, dass Jana Scheerer ausgerechnet eine Sprachwissenschaftlerin ins Feld schickt, die im Minenfeld der Kommunikation ins Stolpern gerät. Und nicht weniger selbstironisch ist es, dass Scheerer in Bezug auf ihre Autorenschaft mit doppeltem Boden spielt, indem sie die Urheberschaft einem anderen Autor zuschiebt.
Scheerer jongliert geschickt mit vielen Ebenen. Nicht eine einzelne innere Stimme begleitet die Hauptfigur, nein, es ist eine ganze Gruppe von sich teilweise sogar widersprechenden Stimmen, die auf sie einredet, wodurch sich ihre Lage deutlich erschwert.
Denn es gibt nicht die eine „richtige“ Stimme, das eine „richtige“ Maß. Auch das Gewissen ist längst divers, ist vielstimmig und in sich uneins.
Die Autorin zeigt: Es geht nicht nur um das, was gesagt wird, sondern auch darum, wer etwas sagt. Es geht um Deutungshoheit und Machtgefälle und darum, dass es die eine objektive Wahrheit überhaupt nicht geben kann.
Scheerers Text ist urkomisch und zugleich bitterböse. Rücksichtslos bringt sie ihre Figuren in Bedrängnis. Augenzwinkernd baut sie kleine Seitenhiebe ein, um ihren Leser:innen zu signalisieren, dass alles ja nur „Spaß“ ist, wobei sich die Bedrohung für Nora Rischer trotzdem als sehr konkret darstellt.
Mit ihrer Satire hält Scherer dem unbedingten Anspruch nach politischer Korrektheit einen Spiegel vor. Wo beginnt Diskriminierung? Wo endet sachliche Kritik? Wer entscheidet überhaupt, was Diskriminierung alles beinhaltet? Und was nicht? Und kann das alles morgen nicht schon anders sein? Wie orientiert man sich in einem Umfeld, dessen Spielregeln nahezu fließend sind? Kann man überhaupt unvoreingenommen in eine Debatte gehen, wenn man im Grunde überhaupt nicht unvoreingenommen ist. Weil man automatisch die Altlasten vergangener Generationen mit sich herumschleppt.
Scheerer hat ihren Roman ins universitäre Milieu verlagert. Eine Umgebung, die vermeintlich als tolerant und weltoffen gilt, sich im Laufe der Handlung jedoch als ein bis zur inquisitorischen Engstirnigkeit überreguliertes Haifischbecken erweist.
So karikiert die Autorin den Anspruch einer Gesellschaft, die am eigenen Moralkodex scheitern muss, sobald dieser seine Bodenhaftung verliert. Denn Toleranz funktioniert nur dort, wo Fehler gemacht werden dürfen.
Nebenbei ist „Die Rassistin“ einfach eine kurzweilige und witzige Lektüre mit zahlreichen liebenswerten Hauptstadt-Details. Ein Buch, das gerade deshalb so klug ist, weil es darum wirbt, ein wenig mehr mit dem Herzen zu sehen.
- Autorin: Jana Scheerer
- Titel: Die Rassistin
- Verlag: Schöffling
- Erschienen: Januar 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 244 Seiten
- ISBN: 978-3895613531
Wertung: 13/15 dpt