Was ist so gefährlich an Märchen, dass sie sogar in der Öffentlichkeit zerrissen werden?
Märchen sind und waren schon immer politisch: Obwohl sie als kleine Geschichten angefangen haben, die man sich gegenseitig zur Unterhaltung erzählte, wurde das, was man aus ihnen lernen konnte schnell politisiert. So wurden die Lehren der Märchen auf ein bestimmtes Ziel (durch Sammelbände, aber auch (Disney-) Filme) hin angepasst – darunter die Erziehung von Kindern, aber auch um zu zeigen, welche Rolle Mädchen und Jungen später mal haben werden.
Märchen haben so die Aufgabe bekommen, uns wichtige Werte und Lektionen zu vermitteln und zu zeigen, was normal ist.
Aber wer entscheidet, was wertvoll, wichtig oder normal ist? Die Antwort ist einfach: Die Leute, die Märchen sammeln und drucken. Es sind ihre Werte, ihre Lektionen und ihre Normalität, die wir in Märchen wiederfinden.
Und die Auswahl an Märchen ist enttäuschend einseitig und erdrückend heteronormativ.
“Märchenland für alle” ist ein ungarisches Märchenbuch, das von Boldizsar M. Nagy herausgegeben und 2021 durch den dtv-Verlag im Deutschen veröffentlicht wurde. Der Gedanke dahinter war, dass endlich die Geschichten einen Platz bekommen, die sonst aggressiv verdrängt werden. Mit diesem Buch schien in Ungarn scheinbar auch ein Nerv getroffen zu werden, denn 2020 wurde es von ungarischen Ministerpräsidenten in der Öffentlichkeit zerrissen und war auch ein Aufhänger, um eine Kampagne gegen nicht-heterosexuellen zu gründen.
Bei den meisten Erzählungen handelt es sich um Geschichten, die Kindern etwas zeigen, das sonst ungesagt bleibt: Etwa, dass auch die eigenen Eltern die Bösen sein können und dass Kinder sich wehren dürfen. So gab es Eltern, die ihre Kinder verstießen, einen durch Saft betrunkenen “Bären” der die Kinder anschrie und Familien, die mit ihren rock tragenden Sohn nicht gesehen werden wollten.
Aber wir erfahren auch, was es heißt, sich gegen einen Riesen zu stellen, der einen klein halten wollte, ermordet zu werden, weil man nicht in dem Körper leben wollte, in dem man geboren wurde und dass offene Kommunikation die Familie retten kann.
So handelt es sich bei diesen Märchen um Geschichten, die Kindern Werte vermitteln, die noch zu oft verteufelt werden: Und zwar, wie wichtig ein gesundes Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit und auch Selbstliebe sind.
“Märchenland für alle” ist ein Buch für Groß und Klein, denn es werden Werte vermittelt, die einen stark machen und zeigen, dass es mehr zu erzählen gibt, als gängige Märchen es durchscheinen lassen. Dabei war jede Geschichte kindergerecht geschrieben, ohne durch die hin und wieder schwierigen Themen zu überfordern.
Dieses Buch zu zerreißen hat nur verdeutlicht, welche Werte die ungarische Regierung fördern will und vor welchen sie Angst hat: Vielfalt, Toleranz und Selbstbestimmtheit sind demokratische Grundlagen, die ein auf toxischer Maskulinität und Misogynie aufgebautes Regime zum Fallen bringen können.
- Herausgeber: Boldizsar M. Nagy
- Titel: Märchenland für alle
- Originaltitel: Meseorszag mindenkie
- Übersetzer: Christina Kunze, Tünde Malomvölgyi, Timea Tanko
- Illustratorin: Lilla Bölecz
- Verlag: dtv
- Erschienen: 2021
- Einband: Hardcover
- Seiten: 180
- ISBN: 978-3831045099
- Sprache: Ungarisch
- Sonstige Informationen:
- Produktseite
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 14/15 dpt