Christoffer Carlsson – Unter dem Sturm (Buch)
Ist Gewalttätigkeit vererbbar?
Im November 1994 brennt in dem Dorf Marbäck das Haus der Familie Markström nieder. Die Eltern sind in der Stadt, deren Tochter Lovisa stirbt. Allerdings starb Lovisa nicht durch die Flammen, sie wurde zuvor erschlagen. Kommissar Öberg von der Polizei aus Halmstad leitet die Ermittlungen und setzt dabei auf die Mitarbeit des jungen Polizeiassistenten Vidar Jörgensson, der in Marbäck lebt. In der Tatnacht ist es Vidar, der in einem angrenzenden Waldstück den durch Brandwunden verletzten Edvard Christensson findet; Lovisas Freund. Auf einer Wiese findet man einen Handschuh von Edvard, daran Blutspuren von Lovisa. Edvard ist für die Polizei kein Unbekannter, sein Vater August schon gar nicht. Ein Trinker und Schläger, wie der Vater so der Sohn? Die Meinung in Marbäck ist jedenfalls einhellig. Edvard wird verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt, frühestens nach zehn Jahren besteht die Möglichkeit, einen Antrag auf Bewährung zu stellen.
Für Edvards Neffen Isak bricht hingegen die Welt zusammen. Der Achtjährige, für den der Onkel eine Art Vaterersatz war, hat seitdem einen schweren Stand, denn er wird von Mitschülern und anderen immer wieder auf seinen Onkel angesprochen. Meist hinter seinem Rücken, doch gelegentlich eskaliert die Situation. Ob auch Isak so werden wird, wie Onkel und Großvater?
Zehn Jahre später kommen Vidar erste Zweifel, zumal Edvard bis heute seine Unschuld beteuert. Als er auf die Spur eines Einbrecherduos stößt, dass Mitte der 1990er Jahre sein Unwesen trieb, beginnt er den alten Fall wiederaufzunehmen. Inoffiziell versteht sich, womit er sich nicht nur Freunde macht. Ganz im Gegenteil. Aber kann es wirklich sein, dass der wahre Mörder noch frei herumläuft? Derweil geraten die Privatleben von Isak und Vidar zunehmend in eine bedrohliche Schieflage.
Ebenso packender wie eindringlicher Plot
Das Setting von „Unter dem Sturm“ erinnert dunkel an den „Klassiker“ von Val McDermid „Ein Ort für die Ewigkeit“ aus dem Jahr 1999. Damals ermittelten die Polizisten in einer gefühlten Endlosschleife, nach jedem Schritt vorwärts ging es drei zurück, bis Jahre später der Fall doch noch eine Aufklärung fand. Die Geschichten selbst sind natürlich nicht vergleichbar, aber genauso ist der Ablauf hier. Zunächst ereignet sich der Brandfall, zehn Jahre später beginnt Vidar mit eigenen Recherchen, die sich zu einer wahren Obsession entwickeln, und weitere zwölf Jahre später folgt die Auflösung.
Die Szenarien wechseln zwischen Isak und Vidar, zwei Personen die unterschiedlicher nicht sein können und deren Lebenswege sich dennoch frappierend ähneln. Isak leidet unter seinem vermeintlichen familiären Erbe, dem er sich immer wieder stellen muss. Schon zu Schulzeiten hat er Probleme, als Jugendlicher gerät er erstmals in den Fokus der Polizei. Die Aussicht auf ein normales Leben scheint gering, selbst als er mit Karin seine große Liebe findet, bleibt die Situation angespannt. Vidar geht es kaum anders. Er heiratet Patricia, deren Eltern als Flüchtlinge aus Nigeria stammen. Erst ein Verhältnis mit einer deutlich älteren, verheirateten Frau aus Marbäck, jetzt sogar eine schwarze Ehefrau. Erste Dörfler fragen sich, ob er sie gekauft habe? Ist es Dummheit oder schon Rassismus oder gar Beides?
Später, die gemeinsame Tochter Amadia ist bereits auf der Welt, stürzt sich Vidar wie besessen in den alten Fall. Sehr zum Verdruss seiner Kollegen und Vorgesetzten, so dass er den Polizeidienst kündigt. Beide, Isak wie Vidar, werden die dramatischen Ereignisse zeitlebens nicht mehr los; begleitet von Vorurteilen der Dorfgemeinschaft, die der Autor sehr beiläufig einstreut, womit sich der Effekt erhöht; schönes Kopfkino. Auf dem Buchrücken heißt es passend: „Das grundlegende Verbrechen ist die Gesellschaft.“
„Unter dem Sturm“ ist ein ruhiger Roman, der sich langsam aber beständig entwickelt und dennoch äußerst packend ist. Denn irgendwo muss es doch den großen Unbekannten geben oder sollte Edvard tatsächlich der Brandstifter sein? Die düstere Atmosphäre sorgt für zusätzliche Beklemmung. Vor allem aber leidet man als Leser mit den beiden Protagonisten, die keinen Ausweg aus ihrer Situation finden, wodurch eine Wirkung über die Romanlektüre hinaus entsteht. Großartig!
- Autor: Christoffer Carlsson
- Titel: Unter dem Sturm
- Originaltitel: Järtecken. Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann
- Verlag: Rowohlt
- Umfang: 464 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Juli 2022
- ISBN: 978-3-499-00262-5
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Wertung: 13/15 dpt