Heidi Pitlor – Die Heldinnen der Geschichte (Buch)


© Eichborn

Stell dir vor, du bist 2015 eine alleinerziehende Mutter in Amerika und verdienst dir mit Ghostwriting den Lebensunterhalt.
Du bist gebildet, hattest beeindruckende Jobs, bezeichnest dich selbst als Feminist und kamst mit deinen männlichen Kollegen immer super klar. Mittlerweile aber steht dir das Wasser bis zum Kopf, weil du dich auf der Arbeit für ihre männlichen verbiegen musstest, während dein Sohn verweichlicht ist und einer deiner ghostwriting-Klienten wegen sexueller Gewalt vor Gericht steht.
Als gute Feministin versuchst du deinem Kind gute Werte vorzuleben, während Trump gewählt wird und es von Jungen erwartet wird, sich gegenseitig zu verschlagen.
Dann aber darfst du für eine berühmte Feministin ein Buch schreiben, die als Wahlkandidatin für das ganze Land die sehnsüchtig benötigte Wende bringen soll. Das Blöde ist nur, dass du über eine feministische Mutterschaft schreiben sollst, während du es dir nicht mal leisten kannst, die Miete pünktlich zu zahlen, geschweige denn deine Zähne richten zu lassen.

In “Die Heldinnen der Geschichte” von Heidi Pitlor – einem Roman, der 2022 durch den Eichborn-Verlag veröffentlicht wurde – geht es um feministische Ansprüche und die misogyne Realität, mit denen gerade amerikanische Frauen, aber auch Frauen weltweit, konfrontiert werden.

Die Geschichte beginnt mit Amies Erzählung über ihre Situation: Als Ghostwriterin hatte sie schon mit den unterschiedlichsten Klienten gearbeitet – darunter wichtige Politiker, Sportler und Stars. Sie erfährt die tiefsten Geheimnisse, die besten Momente und die peinlichsten Erlebnisse ihrer Klienten, die sie dann in marketingstrategische, brand-freundliche Bestseller verwandeln soll.

Als ihr ein Klient aufgrund seiner sexuellen Übergriffigkeit gegen Schauspielerinnen abspringt, ist sie verzweifelt genug, einer berühmten Feministin ihre eigene Geschichte zu leihen, damit sie im amerikanischen Wahlkampf überhaupt eine Chance hat.

“Die Heldinnen der Geschichte” ist eine Geschichte über das Frausein in einer patriarchalen Welt. Wir begleiten Amy, wie sie sich in einer Welt behaupten muss, in der Maskulinität und Misogynie das Ideal sind, während Weiblichkeit als Verweichlichung angesehen wird. So hat Amy sich immer versucht an die Männer, die über ihr standen, anzupassen – seien es Klienten, mit denen sie sich ihre Zusammenarbeit nicht vergraulen wollte, ihr Agent, von dem sie nur Brotkrumen als Bezahlung bekommt oder Kollegen, durch die sie Anerkennung bekam, weil sie “nicht wie andere Frauen” war.

Als alleinerziehende Mutter wird sie dabei mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert – angefangen damit, dass sie ihrem fünfjährigen Sohn eine gute Ausbildung ermöglichen will, ihm genug Liebe (aber auch nicht zu viel!) schenken möchte, sich ständig anhören muss, wie verweichlicht er doch ist und das alles, während Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird. Dabei sieht sie sich immer wieder feministischen Idealen gegenüber, die sie selbst gerne repräsentieren würde, woran sie aber im Alltag scheitert. Das ist umso schlimmer, da Amy immer ein freies und selbstbestimmtes Leben führen wollte.

Erst als Amy für Lana Brendon – die wichtigste und berühmteste Feministin in Amerika – ein Buch als Ghostwriterin schreibt, lernt Amy, wie sie sich in ihrer frauenfeindlichen Welt behaupten kann.

Die Handlung erleben wir durch Amies Augen in einem Mix aus ihrem alltäglichem Überleben und Erinnerungen, die Amies Werdegang erklären: Amy kommt aus einer durchschnittlichen amerikanischen Familie, mit durchschnittlicher Arbeitsmoral und Werten. Sie durfte eine angesehene Uni besuchen, was ihr durch ein Stipendium ermöglicht wurde. Dort wurde sie leider durch einen Dozenten sexuell belästigt, worunter dann auch ihre Noten litten. Danach durfte sie in New York in einem angesehenen Unternehmen arbeiten, ehe sie es nicht mehr aushielt, sich ihren männlichen als ein “pick me girl” (erklärung) Kollegen anzubiedern – und sogar über andere weibliche Kolleginnen herzog, um im Vergleich besser dazustehen.

Später entschied sie sich, als Ghostwriterin selbstständig zu werden und wurde durch ein One-Night- Stand schwanger. Währenddessen lächelt sie über die sexuellen Übergriffe ihrer männlichen Klienten hinweg, um nicht ihr Honorar aufs Spiel zu setzen.

Amy ist damit eine Sinnbild für die durchschnittliche amerikanische Frau: Sie wird täglich mit Sexismus, Geschlechtervorurteilen, Sexualisierung und sexueller Übergriffigkeit konfrontiert, während sie gegen Doppelstandards stößt und durch einen fehlenden Partner mit Armut kämpfen muss.

Immer wieder fragt sie sich, wie sie eine gute Feministin sein kann, nur um in der nächsten Szene nicht genug Geld für eine Zahnarztbehandlung zu haben oder den Durchfall ihres “verweichlichten” Sohnes wegzuwischen, der im Kindergarten keine Freunde findet.

“Die Heldinnen der Geschichte” zeigt somit mit trockenem Humor, wie Ideale auf die Realität treffen.

Es gibt immer mehr Handbücher, wie man Kinder zu Feministen erzieht, wie man sich souverän als Frau in der Arbeitswelt auftritt, gleichberechtigte Beziehungen führt oder als Frau auch die eigenen (beruflichen) Träume erfüllen kann. Diese Tipps werden dann gerne von privilegierten (weißen) Frauen geteilt, die ihre Tipps dann durch Bücher und Social Media Auftritte mit der “Durchschnitts”-Frau teilen wollen (und dabei echt viel Geld verdienen).

Meistens sind das sogar gute Tipps! Denn meistens geht es darum, sich als Frau dem eigenen Wert bewusst zu werden, die eigenen Interessen endlich durchzusetzen und klarer Bedürfnisse zu artikulieren – bloß doof, wenn man es sich auf der Arbeit nicht leisten kann, resoluter zu werden, weil man vom Boss gekündigt werden könnte oder vom Gehalt des Partners abhängig ist. 

Heidi Pitlor bewertet in ihrem Buch weder den Feminismus noch Frauen – stattdessen zeigt sie, wie die Realität für viele Frauen (und gerade alleinerziehende Mütter) tatsächlich aussieht: Mittellos, gestresst, überfordert und vollgekotzt. Erziehungs- und Beziehungsratgeber, Reden zu Frauenrechten und gut gemeinte Tipps sind dabei nur weitere Stressfaktoren, die zu Versagensängsten führen können.

Das heißt aber nicht, dass feministische Werte schlecht sind – vielmehr zeigt der Stress, den gerade Amy durchlebt, wie toxisch ihr Umfeld ist und wie viel noch getan werden muss. Denn würde sie fair bezahlt werden, nicht gegen toxische Maskulinität und ein schlechtes Sozialversicherungssystem ankämpfen müssen, müsste sie nicht resoluter und selbstbestimmter werden müssen.

Insgesamt ist “Die Heldinnen der Geschichte” ein wirklich tolles Buch – als Autorin ist Amy eine tolle Protagonistin mit einer ausführlich, präzise und humorvollen Perspektive – wobei Amy sich nicht zu schade ist hin und wieder im Selbstmitleid zu suhlen (was zum Glück nur selten und kurz passiert). Das Geschehen ist durchgehend fesselnd, da die Handlungen und Amies Konflikte aus dem echten Leben kommen könnten. Gerade Amies realistischen Probleme und ihre pragmatische Herangehensweise machen dieses Buch so lebendig und unterhaltend zum Lesen.

“Die Heldinnen der Geschichte” ist deswegen ein Buch, das ich Feministen, Antifeministen, Frauen, Mütter und nicht-Frauen empfehlen möchte: Das Buch ist so schnell gelesen, stellt Feminismus auf den Prüfstand und zwingt uns beim Lesen unsere eigenen Vorurteile und Annahmen zu hinterfragen.

  • Autor: Heidi Pitlor
  • Titel: Die Heldinnen der Geschichte
  • Originaltitel: Impersonation
  • Übersetzer: Andrea O’Brien
  • Verlag: Eichborn
  • Erschienen: 2022
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 416
  • ISBN: 978-3-8479-0100-6
  • Sprache: Englisch
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite
  • Erwerbsmöglichkeiten


    Wertung: 13/15 dpt


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