Anna Silber – Das Meer von unten (Buch)


Ein Blick nach unten

Connie arbeitet als Küchenhilfe in einem Wiener Restaurant. Eigentlich ist sie damit nicht wirklich glücklich. Aber was sie wirklich glücklich machen könnte, weiß sie nicht. Wichtigen Entscheidungen geht sie lieber aus dem Weg und so driftet sie ein wenig orientierungslos durchs Leben.

Als vor ihrer Tür ein Nachbarskind auftaucht und ungefragt Hilfe beansprucht, bröckelt ihre Abwehrhaltung, mit der sie ansonsten jeden auf Abstand hält. Die bindungsscheue junge Frau, die – so erfährt man nur andeutungsweise – in ihrer Jugend einige Enttäuschen erlebt hat, beginnt sich für das Leben der neuzugezogenen ausländischen Nachbarsfamilie zu interessieren.

Anna Silber hat mit ihrem zweiten Roman nach „Chopinhof Blues“ eine einfühlsame sozialkritische Außenseiter-Geschichte geschrieben.

Als Niedriglohnempfängerin steckt Connie mitten drin im sozialen Unterbau der Gesellschaft. Ihre Kollegen und Kolleginnen in der Gastronomie sind zum größten Teil Menschen mit Migrationshintergrund. Politische Teilhabe ist für die meisten ein Fremdwort. Die gemeinsame Armut solidarisiert, hält aber auch gefangen.

Das Nachbarskind, von dem man weder Nationalität noch Namen oder Geschlecht erfährt, ist der österreichischen Bürokratie völlig hilflos ausgeliefert. Mit seinen Eltern ist es von der Abschiebung bedroht. Silber streut nur wenige Indizien aus, um die prekäre Situation der Familie sichtbar zu machen. Ohne ausreichende Sprachkenntnisse, ohne Papiere und sehr offensichtlich mit einem schweren Trauma belastet, können die Eltern den Anforderungen der Ausländerbehörde nicht gerecht werden. Connie versucht zu helfen und begleitet die Familie beim Behördengang. Doch sogar sie, die Österreicherin ist, scheitert an den amtlichen Abläufen. Der einzige verzweifelte Ausweg, der der Nachbarsfamilie bleibt, ist in die Illegalität abzutauchen.

Der Schwere des Romaninhalts begegnet Silber mit leisem Humor. Die zahlreichen Dialoge transportieren einen gewissen Wiener Charme und lassen die Protagonist:innen lebendig werden. Die detaillierten Alltagsbeschreibungen veranschaulichen die Härte des Berufs, den Connie ausübt, ohne falsches Pathos zu verbreiten. Silber erzeugt Respekt für ihre Figuren und deren Arbeit.  

Im Laufe der Handlung erfährt Connie eine deutliche Wandlung. Mit der Verantwortung, die sie für andere übernimmt, spürt sie auch wieder die Verantwortung für sich selbst. Sie geht eine zaghafte Beziehung zu Kollegin Hana ein, wodurch ihr Leben an Struktur und Sinn zurückgewinnt.

Silber verfängt sich nicht in der Versuchung, ihrem Roman ein Happy-End zu verpassen und tut gut daran. Die Missstände, die das Schicksal der Nachbarsfamilie bestimmen, bleiben bestehen. Die Handlung bleibt an diesem Punkt offen. Die Kritik an den beschriebenen Problemen hallt umso wirkungsvoller nach.

Silber verbindet in ihrem Roman die persönliche Entwicklungsgeschichte einer verletzlichen Hauptfigur mit der hochaktuellen Thematik um Migration und Flucht. Ihr Buch kommt leise daher und ist trotzdem eine ziemlich heftige Anklageschrift gegen die seelenlose Bürokratie, die hilfesuchende Menschen im Regen stehen lässt.

  • Autorin:  Anna Silber
  • Titel:  Das Meer von unten
  • Verlag: Picus Verlag
  • Erschienen:  März 2023
  • Einband:  Gebundene Ausgabe
  • Seiten:  226 Seiten
  • ISBN:  978-3711721358


Wertung: 12/15 dpt


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