Elena Ferrante – Das lügenhafte Leben der Erwachsenen (Buch)


Wir begleiten Giovanna, auch Giannì oder Giannina genannt, im Neapel der 90er Jahre beim Erwachsenwerden.
Zu Beginn der Geschichte ist sie 13, am Ende 16 Jahre alt und hat den Zauber ihrer Kindheit und auch ein Stück weit so manchen Jugendtraum hinter sich gelassen.
Giovanna ist, wie jeder Teenager auf der Suche nach ihrer Identität, nach dem „Warum?“, dem „Wie?“ und den Dingen, die ihre Eltern verheimlichen.
Sie will herausfinden wer sie ist.

„Ich habe es satt, den Worten anderer ausgesetzt zu sein. Ich muss wissen, wer ich wirklich bin und was für ein Mensch ich werden kann, hilf mir.“


Ein wenig nostalgisch stimmt vermutlich jeden, der noch prädigitalisiert sozialisiert wurde, das Setting zu Beginn der 90er Jahre: Begonnen bei Fotos, auf denen ein Gesicht weggekratzt wurde bis hin zu dem Festnetztelefon, das im elterlichen Flur steht und dem Telefonbuch, in dem säuberlich alle Nummern eingetragen werden. Null Privatsphäre vor neugierigen Eltern und keine ständige Erreichbarkeit – zur heutigen Zeit wäre das Buch dann wohl auch nur halb so dick, weil Giovanna einfach eine WhatsApp-Nachricht geschrieben hätte.

Giovanna jedenfalls begibt sich auf die Suche nach sich selbst und zeigt dabei deutlich, wie aus dem geliebten und wohlbehüten Akademikerkind ein enfant terrible werden kann, das hin- und herschwankt zwischen Prestige und der Ablösung von den Eltern und dem was sie wirklich möchte – oder auch eben nicht.
Elena Ferrante beschreibt das Verhalten der jungen Frau und wie es in ihr aussieht so eindrücklich, dass es beim Lesen wehtut. Giovanna verhält sich ätzend, gemein gegenüber ihren Mitmenschen, ist zerrissen zwischen Selbsthass und Selbstakzeptanz, teilweise zum Fremdschämen, aber dabei immer absolut nahbar und nachvollziehbar. Sie setzt sich mit ihren Eltern und deren Beziehungen auseinander, sucht verzweifelt nach Identifikation, macht erste Erfahrungen mit Jungen, erfährt Aufmerksamkeit von erwachsenen Männern und lernt, dass all das meistens nur wenig romantisch ist und dass Frauen und Mädchen häufig Dinge tun, die sie eigentlich nicht wollen, weil diese eben von ihnen erwartet werden.

„Wie kann es sein, dachte ich, dass Jungs so dumm sind, wie kann es sein, dass die beiden hier blind werden, sobald ich sie berühre, sobald ich mich berühren lasse, und sie nicht einmal sehen und spüren, wie sehr ich mich vor mir selbst ekle.“


Zugegeben, die Schilderung von Sexualität im Buch (auch von kindlicher Sexualität) ist irritierend, dabei aber auch brutal ehrlich und sexualpädagogisch betrachtet völlig normal.
Giovannas Erkundung der Sexualität im Jugendalter ist nicht leicht zu lesen, spiegelt aber sicherlich die Erfahrungen vieler Mädchen – besonders zu einer Zeit, in der Aufklärung sich maximal auf übertragbare Krankheiten bezog und Konsens maximal ein Thema war, das Dr. Sommer angebracht hat – insofern es denn in Italien vergleichbares gab.
Hinzu kommen mag auch das sehr lasche Jugendschutzgesetz in Italien, bei dem das Schutzalter erst vor wenigen Jahren auf 14 Jahre angehoben wurde. Leider konnte ich nichts dazu finden, ob es in den 90ern Grenzen bzgl. der Altersunterschiede gab.
Das Buch endet mit einer der realistischsten, aber auch schmerzvollsten konsensuellen Sexszenen, die ich je gelesen habe.
Giovanna hat da aber noch lange nicht gefunden, was sie gesucht hat – weder bzgl. ihrer Vorstellungen von Liebe noch bezogen auf ihr Selbstbild und die Ablösung von ihren Eltern.

Letztendlich hat sie aber vor allem gelernt, dass alle Erwachsenen irgendwann lügen. Und seien sie noch so sehr der Moral (z. B. im Sinne des katholischen Glaubens) verbunden.

Leser*innen, die bereit sind, sich auf Ferrantes unverblümte Geschichte, in der nichts unter den Teppich gekehrt wird, einzulassen und die eventuell selbst in den 90er Jahren aufgewachsen sind, werden in diesem Buch vielleicht das Gefühl finden, mit ihren Erfahrungen nicht allein zu sein.

  • Autor: Elena Ferrante
  • Titel:  Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
  • Originaltitel: La vita bugiarda degli adulti
  • Übersetzer: Karin Krieger
  • Verlag: Suhrkamp
  • Erschienen: 12.09.2021
  • Einband: Broschur
  • Seiten: 415
  • ISBN: 978-3-518-47168-5
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite
  • Erwerbsmöglichkeiten


Wertung: 12/15 dpt

 


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