Ausgangspunkt für den Roman ist eine reale Begebenheit. Am 4.Februar 1912 stürzte sich der aus Böhmen stammende Schneider Franz Reichelt von der ersten Plattform des Eifelturms, um der Öffentlichkeit seine Erfindung, einen neuartigen Fallschirmanzug, vorzuführen. Das Experiment scheiterte, Reichelt starb. Seit Tod gilt als der erste von einer Kamera festgehaltene überhaupt. Noch heute sind die Filmaufnahmen auf youtube frei zugänglich.
Kern spürt der Lebensgesichte des Damenschneiders Reichelt nach. Wer war dieser Mann, der sich in Paris niederließ und einen Salon betrieb? Was brachte ihn dazu, ein solches Risiko einzugehen? War er „nur“ ein Kind seiner Epoche, in der das Erfindertum besonders florierte? Oder besaß er neben seinem Erfinderehrgeiz vielleicht weitere persönliche Motive? Kern beleuchtet das Umfeld Reichelts, die Menschen, die ihm nahe standen und geht möglichen Einflüssen nach.
Von Beginn an schwebt zwischen den Zeilen etwas, das der Autor Étienne Kern mit dem Romanplot verwebt. Unterbrochen wird das auktoriale Erzählen immer wieder durch eine weitere Erzählstimme, die als Ich-Erzähler in Erscheinung tritt und die berühmten historischen Filmdokumente en détail beschreibt.
Zu der Fassungslosigkeit, die die kommentierende Ich-Stimme transportiert, mischt sich ab Mitte des Buches eine starke persönliche Betroffenheit. Der Ich-Erzähler nimmt Bezug auf einen privaten Verlust, auf den Suizid einer Freundin.
Das Bild des Sturzes, des Fallens aus großer Höhe, verbindet die beiden Geschichten miteinander. Das Motiv des Autors, seine Obsession der realen Geschichte gegenüber, wird sichtbar. Beide Erzählungen sind den „Entflogenen“, französisch „les envolés“, gewidmet, also denjenigen Seelen, die man verloren hat.
Kern nutzt die reale Begebenheit, um die eigene Trauer zu verarbeiten. Am Ende bleibt das Unbegreifliche trotzdem unbegreiflich. Er erfindet keine Erklärung, wo ihm die Fakten diese verwehren.
Der einzige Trost, den er als Dichter (er)findet, liegt im Bild der Erlösung seiner personne envolée.
Alles ist vollendet.“ Seite 165
Das fehlende Gewicht einer eindeutigen Antwort verleiht dem Text eine schwer zu ertragende Leichtigkeit. Nicht bei allen Leser:innen wird die versöhnliche Darstellung des Sterbens verfangen.
In Frankreich wurde der Roman mit dem Prix Goncourt du premier roman ausgezeichnet.
- Autor: Étienne Kern
- Titel: Die Entflogenen
- Originaltitel: Les envolés
- Übersetzer: Elmar Tannert
- Verlag: ars vivendi
- Erschienen: August 2023
- Einband: Art des Einbands Gebundene Ausgabe
- Seiten: 176 Seiten
- ISBN: 978-3747205167
Wertung: 10/15 dpt