Gretel Mayer – Schwabing 62 (Buch)


Moralische Wertvorstellungen prallen aufeinander

Schwabing 62
© Gmeiner

Dass der bald siebenjährige Wolferl bei den Hilperts zu Mittag isst, anschließend mit deren Tochter Elsi spielt und dort übernachtet, ist nichts Außergewöhnliches. Die beiden Kinder gehen in die gleiche Schulklasse, mit Wolferts Mutter Berenike, die zwei Etagen tiefer lebt, ist man seit dem Einzug in die neue Wohnung befreundet. Seltsam ist nur, dass Wolferl berichtet, dass seine Mutter so fest geschlafen habe, dass er sie nicht habe wecken können. Und das zur Mittagszeit, nach Schulschluss. Am nächsten Morgen die überraschende wie traurige Erkenntnis, Berenike ist tot. Korbinian, Kriminalhauptkommissar bei der Abteilung Mord I im Polizeipräsidium an der Ettstraße, und Evi Hilpert machen sich große Vorwürfe, schließlich hätten sie direkt nach Wolferls Aussage am Vortag nach ihrer Nachbarin schauen müssen. 

Berenike von und zu Rahnstedt ist eine junge Gräfin, die sich vor vielen Jahren von ihrer Familie losgesagt hat. Als Künstlerin wollte sie sich in Schwabing behaupten, selbst verwirklichen, kurzum, das Leben in vollen Zügen genießen. Dies beinhaltete neben Rausch- und Betäubungsmitteln, viel Alkohol und etliche sexuelle Liebschaften. So lebte sie bis zuletzt in einer Dreierbeziehung mit ihrer besten Freundin Lieselotte „Lou“ Berghammer und dem jungen Peter Konzelmann.

Ihr Kleinbürgerhirn kapiert’s wohl ned! Do hods koa Rivalität zwischn uns gebn! Ganz bestimmt ned! Des hod si einfach imma so ergeben.

Sollte es in der Ménage à trois zu einer tödlichen Eifersucht gekommen sein? Schließlich wurde Berenike erschlagen. In ihrem Nachlass finden die Ermittler ein Buchfragment, welches offensichtlich ihren eigenen Lebenslauf wiedergibt. Danach war ihr Vater hochrangiges Mitglied in der NSDAP, es kam zu einem gravierenden Vorfall über den später nie wieder gesprochen wurde. Die Eltern sind lange tot, aber wollte womöglich ihre Schwester Sophia, mit der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat, die Veröffentlichung des Buches, sprich die Beschmutzung ihrer Familie verhindern? Und dann wäre da noch die Frage, warum sich Berenike in letzter Zeit auffällig viele Sorgen um ihren geliebten Sohn macht? Ob dessen Vater angesichts ihres ausufernden Lebensstils sich in die Erziehung seines Sohnes einmischen, ihn sogar Berenike wegnehmen wollte? Doch wer ist dieser Vater überhaupt?

Weibliche Selbstverwirklichung und Freiheitsdrang in den 1960er Jahren

Gretel Mayer mag Freunden des Gmeiner-Verlags ein Begriff sein, denn 2023 erschien dort zuletzt ihr lesenswerter Roman „Münchner Vergangenheit“. Auch ihre beiden Chiemsee-Krimis („Der Tod des Chiemseemalers“ und „Die Tote vom Chiemsee“), zuvor erschienen bei Emons, seien erwähnt.

„Schwabing 62“ spielt in der ersten Julihälfte 1962 und somit wenige Tage nach den sogenannten „Schwabinger Krawallen“, die ihren Ursprung am 21. Juni fanden, nachdem eine Gruppe junger Menschen spätabends Musik machte. Nach Nachbarbeschwerden griff die Polizei mit großer Härte durch, vier Tage lang gab es Unruhen bis hin zu Straßenschlachten. Deeskalation war bei der Polizei noch ein Fremdwort, während der Freiheitsdrang junger Menschen mehr und mehr um sich griff. Der endgültige Bruch mit der dunklen Vergangenheit, über die die Eltern nie sprechen wollten, stand an und mündete in den Studentenunruhen sechs Jahre später.

Berenikes Familie hat ein düsteres Geheimnis aus jener noch düsteren Zeit. Es kommt zum finalen Konflikt mit den Eltern, aber auch mit der Schwester, die damals nicht nur dem Vater zuliebe politisch aktiv war. Doch das wahre Desaster oder Drama, findet sich einmal mehr in der Liebe. Es gab nicht nur die Beziehung zwischen Berenike, Lou und Peter, sondern noch weitere, worauf ja die Existenz des Wolferl hinweist. Einer ihrer einstigen Liebhaber war ein ranghoher Politiker der CSU, so dass es sogar zu einem denkwürdigen Kurzauftritt des legendären Franz Josef Strauß kommt; Bierkonsum selbstredend inklusive.

„Schwabing 62“ gibt gelungene Einblicke in die gesellschaftliche Gemengelage, wo sich veraltete Moralvorstellungen und der Drang nach freier Liebe unversöhnlich gegenüberstehen. Berenike ist eine selbst für ihre Zeit sehr fortschrittliche Frau, die sich mit allen Konsequenzen selbst verwirklichen will, ohne dabei das Wohlergehen ihres Sohnes zu vernachlässigen. Ein schmaler Grat, denn irgendwo muss ja ein wenig Geld herkommen. Zur Erinnerung: Frauen benötigten damals noch die Zustimmung des Ehemanns, wenn sie arbeiten wollten. Ein weiteres Thema, welches in der Person der Evi Hilpert gespiegelt wird.

Wenngleich letztlich nur wenige Personen als Täter in Frage kommen (Lou, Peter, Sophia und deren Kurarzt sowie der zunächst unbekannte Vater von Wolferl), gelingt es Gretel Mayer gut, den Spannungsbogen konstant hoch zu halten. Tagebuchauszüge der Berenike offenbaren nach und nach das ganze Ausmaß ihres Lebens und ihrer Beziehungen, zudem tun sich menschliche Abgründe auf. Mehr als ein großes Liebeskarussell fordert seinen Tribut, was womöglich der einzige „Schwachpunkt“ ist, denn nahezu alle Figuren werden von amourösen Gedanken und Handlungen beeinflusst. Dahingegen ist ein weiterer Pluspunkt, dass einige Figuren Dialekt sprechen, was dem Lokalkolorit sehr zu Gute kommt.

  • Autorin: Gretel Mayer
  • Titel: Schwabing 62
  • Verlag: Gemeiner
  • Umfang: 268 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Februar 2024
  • ISBN: 978-3-8392-0606-5
  • Produktseite


Wertung: 11/15 dpt


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