Lyneham ist Dystopie, Hard-SF und ein wenig Rabbit Hole
Das Raumschiff, das Henry Meadows, seinen Vater Charles und die Geschwister Chester und Loy zum urzeitlichen Mond Perm bringt, legt eine Bruchlandung in der Wildnis hin. Die Atemmasken haben gerade genug Kapazität, damit die Familie ihr neues Heim erreichen kann: das von der Außenwelt abgeschlossene Biom Lyneham. Denn die Atmosphäre ist toxisch auf Perm. Zwar bereiteten die Impulsmissionen den Mond auf das Eintreffen der Menschheit vor und installierten sogenannte Lungentürme, die Sauerstoff anreichern. Doch es wird noch einige Zeit dauern, bis die Luft Perms für Menschen atembar wird.
Trotz der fremdartigen Lebensumgebung etabliert die Familie einen Alltag im neuen Zuhause. Die Kinder gehen zur Schule und werden von Frau Strom unterrichtet, einer KI, die einst als Gesteinsbohrer fungierte. Die verringerte Schwerkraft ermöglicht Spiele, die auf der Erde nicht funktionierten, andererseits bleiben die Kugeln in Loys Kugelbahn andauernd stecken. Eine Frage stellen sich die Kinder jeden Tag: Wo ist ihre Mama? Loy findet Spuren ihrer Mutter und ist überzeugt davon, dass sie bald kommen wird.
Dr. Mildred Meadows gehörte zu dem Team von Wissenschaftlern, das vor dem Rest der verbliebenen Menschheit auf Perm eintraf, um den Mond bewohnbar zu machen. Ihre Kolleg*innen kritisierten ihre invasiven Experimente und zweifelten an ihren Ergebnissen. Mit dem Leiter der Mission, Dr. Noah Rayser, führte sie kontroverse Diskussionen um die Frage: Sollte der Mond oder der Mensch angepasst werden? Aus dem wissenschaftlichen Disput wurde ein Zerwürfnis mit Folgen für die gesamte Mission, die bis in die Handlungsgegenwart reichen.
Und der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt
Die Gegenwartshandlung in „Lyneham“ wird aus der Sicht des zwölfjährigen Henry erzählt, einem wissbegierigen Jungen, der clever hinterfragt, allgemein eher schüchtern ist und unter Höhenangst leidet. Durch einen Tick in seiner Blickrichtung sieht Henry manchmal die Tiere Perms, die für alle anderen unsichtbar sind. Die Fragen und Beobachtungen von Henry und seiner Schwester Loy und die Antworten von Frau Strom veranschaulichen die urzeitliche geologische Charakteristik Perms: schroff, lebensfeindlich, fremd und gefährlich. Perm ist aber auch ein Ort voller geheimnisvoller Schönheit. Sie diskutieren, wie die Menschheit ihre Lebensgrundlage auf der Erde zerstörte und warum sie sich auf den Weg nach Perm machen musste. Und wie dort ein Überleben gelingen und die Zukunft gestaltet werden kann. Wird die Gesellschaft erneut jene fatalen Fehler begehen, die zum Kollaps auf der Erde führten?
In diesen Gesprächen der Kinder mit ihrem Vater oder Frau Strom fließen gesellschaftskritische, moralische und philosophisch anmutende Themen ein. Es geht um Vertrauen in der Familie, um Liebe, Trennung und Alleinsein und um Verantwortung, die über die eigene Person, die Familie und die Menschheit hinausreicht. Weil die Handlung aus der Sicht eines Kindes erzählt wird, wirken der beschriebene Alltag und die Dialoge naiv und natürlich. Sehr nah am Protagonisten Henry beschreibt Nils Westerboer das Leben und Erleben im Lyneham Biom, einfühlsam die Gefühle, Ängste und Hoffnungen.
Wie man aus der Vergangenheit die Zukunft gestaltet
Die Wissenschaftlerin Mildred Meadows erzählt aus der Ich-Perspektive von ihrer Impulsmission auf Perm, lange bevor ihre Familie dort landet. Der Kryoschlaf in Deutolecith würde es ihr ermöglichen, auf ihren Mann und ihre Kinder zu warten. Dennoch bleibt die Frage, ob sich Familie Meadows auf Perm wieder vereint, lange offen und ein roter Faden der Handlung. Zunächst lernt man sie als Biologin kennen, die die getarnte Fauna und fremdartige Flora Perms erforscht und diese detailliert in ihrem Tagebuch beschreibt. Es ist faszinierend zu lesen, wie die andersartige Natur Perms einer eigenen Evolution und Genetik folgt. In Bezug auf den Weltenbau hat Nils Westerboer eine immense Recherche beeindruckend umgesetzt, wie man auch auf den Karten im Buch sieht.
Mildred ist eine brillante Wissenschaftlerin und eine selbstbewusste, kompromisslos ehrlich kommunizierende Frau. Mit Aussagen wie, sie sei schließlich nicht als Umweltschützerin angereist, oder sie liebe ihre Kinder am meisten, wenn sie von ihnen weit entfernt ist, verstört sie ihre Kolleg*innen. Schließlich verlässt sie das Team und verfolgt ihr eigenes Ziel. Gleichwohl spätestens jetzt auch die Lesenden die Verhältnismäßigkeit und Moral ihres Tuns kritisch hinterfragen dürften, bleibt sie doch die Heldin dieser Geschichte. Mildred und Henry, aber auch Loy, Chester, Charles, Noah Rayser und sogar die KI Frau Strom sind so authentisch charakterisiert, dass man ihre Beweggründe verstehen kann, auch wenn man ihr Tun nicht gutheißt. Vor allem Mildred und Henry entwickeln sich weiter, passen ihr Mindset den sich wandelnden Lebensumständen auf Perm an und finden Lösungen für ihre Probleme im schwierigen Alltag.
Die Passagen aus Mildreds Erzählung sind kursiv gedruckt. Dies wäre eigentlich nicht nötig gewesen, denn die Erzählstimme seiner Erzählenden hat Nils Westerboer perfekt abgestimmt. Darüber hinaus schreibt der Autor einen originellen Sprachstil mit Wiedererkennungswert. Bilder und sprachliche Wendungen treffen genau den Punkt und vermitteln die passende Stimmung. Zuweilen ist Westerboers Erzählstil rudimentär, spart erklärende Details aus und belässt Beschreibungen im Ungefähren. Hier lässt der Autor seinen Lesenden Spielraum für eigene Fantasien und Schlussfolgerungen. Bisweilen verliert man jedoch den Faden und die Orientierung, wer von den Protagonist:innen sich gerade wo befindet.
Ein Buch zum Staunen, Rätseln, Mitfühlen und Nachdenken
„Lyneham“ von Nils Westerboer erzählt eine Geschichte vom Scheitern der Menschheit. Sie beginnt als hoffnungsvolles Familienabenteuer mit Zukunftsaussichten, die Technologie und Wissenschaft versprechen. Sie treibt hinab in ein Dilemma aus nicht kompatiblen Lebensformen und -weisen. Und endet – mit einer vollkommenen Überraschung. Das Finale dreht die Handlung komplett um und zerrt alles bisher Gelesene in ein völlig anderes Licht. Ein oder zwei dieser Wendungen waren vielleicht des Guten zu viel, sind zu abgedreht, um nachvollziehbar zu bleiben. Der Ausblick für die auf Perm verbliebenen Menschen stimmt jedoch versöhnlich. Vielleicht haben sie ihre Lektion gelernt.
- Autor: Nils Westerboer
- Titel: Lyneham
- Verlag: Hobbit Presse
- Erschienen: 03/2025
- Einband: Klappenbroschur
- Seiten: 496
- ISBN: 978–3‑60898–723‑2
- Sonstige Informationen:
- Produktseite beim Verlag

Wertung: 14/15 dpt









Die ersten 400 Seiten habe ich in kürzester Zeit verschlungen wie lange kein Buch mehr davor. Die Weltenbeschreibung ist großartig und das Buch bleibt auf jeder Seite interessant und spannend. Umso enttäuschender fand ich die letzten 100 Seiten. Insbesondere die letzte Wendung war mir zu gewollt. Schade. Der Autor hat sich vorher so viel Zeit gelassen, in die Welt einzuführen – und plötzlich den Erzählstil verändert, als wäre ihm bewusst geworden, dass sich sein Buch ansonsten auf 1000 Seiten erstrecken würde, würde er jetzt nicht die Geschichte raffen. So bleibt das Buch für mich ein fulminantes, jedoch mit einem sehr blassen Ende.