Dystopischer Kriminalroman

In einer Zeit, die noch kommen wird, lebt Harriet Laurent in einem ehemaligen Frankfurter Banktower. Sie arbeitet als Sicherheitskraft in einem Luxuskaufhaus, nebenbei als Klavierstimmerin und ist dennoch Leistungsbezieherin. Auf dem Weg zu einem Kunden in Gießen, bleibt mal wieder der Zug stehen. Ursache ist dieses Mal ein gefährlicher Brand, der ein Altersheim bedroht. Gemeinsam mit Elin und Doro sieht sie nahe des Seniorenheims ein Waldstück, an dessen Rand ein Haus steht, in dem eine alte Frau dringend Hilfe benötigt. In letzter Sekunde gelingt die Rettung, in Begleitung der beiden Frauen fährt Harriet die alte Dame in deren Auto zum nächsten Notfallzentrum. Stop!
Wieso fragte die Frau bei ihrer Rettung: „Wie hast du mich gefunden? Du solltest nicht hier sein?“ Und überhaupt, wie kann es sein, dass Harriet, die Autos nach Möglichkeit meidet und nie einen Führerschein hatte, problemlos die Strecke fahren konnte? Da sie bei der Rettungsaktion ihre Chipkarten verloren hat, beantragt sie diese neu und wird gefragt, ob sie auch einen neuen Führerschein möchte, der alte sei ja im System hinterlegt.
Der Führerschein wurde vor fast sechzehn Jahren ausgestellt. Als sie siebzehn war. Und sie hat nicht den Hauch einer Erinnerung daran, ihn je gemacht zu haben. Wie erklärt man das einer Fremden? Wie sich selbst?
Der ominöse Führerschein lässt Harriet keine Ruhe und so fährt sie nach München, um dort ihre Wurzeln zu suchen. Im Intranet ihrer einstigen Schule findet sie Klassenfotos der Abiturfeier, aber warum ist sie darauf nicht zu sehen? Warum gehört ihr das elterliche Haus noch immer, welches die Mutter vor vielen Jahren verkaufte, um Geld für die Behandlung des schwerkranken Vaters zu haben? Kaum in München angekommen, wird schon in der ersten Nacht bei ihr eingebrochen und nahezu zeitgleich bei ihrer damaligen Kinderpsychiaterin, die zudem lebensgefährlich verletzt wird. Offenbar will jemand, dass Harriet sich nicht an ihre Vergangenheit erinnert. Will die unbekannte Person sie womöglich gar deshalb töten? Und wem kann sie jetzt noch vertrauen, wenn sie schon an ihrer eigenen Biografie größte Zweifel hat?
Gestohlene Erinnerungen
Zoë Beck, mit zahlreichen Auszeichnungen hochdekorierte Autorin („Paradise City“), legt mit „Memoria“ einen feinen Psychothriller vor, der in naher Zukunft spielt. Der Klimawandel ist deutlich fortgeschritten, überall im Land brennt es, die Feuerwehr ist hoffnungslos überfordert. Trotz Job und Nebentätigkeit kann sich Harriet nur ein kleines Zimmer in einem ehemaligen Banktower auf der neunzehnten Etage leisten. Waschmaschinen gibt es hier nicht, lediglich Waschbecken auf den Stockwerken. Manchmal gibt es sogar Strom, der aber oft sanktioniert wird. Lediglich die Reichen haben eigene Stromnetze. Immerhin lohnt die Aussicht und es ist sicher. Diebe, die regelmäßig das Gebäude heimsuchen, kommen über die neunte Etage nicht hinaus. Wenigstens etwas. Beck zeichnet ein dystopisches Bild unserer Zukunft, in denen sie aktuelle Entwicklungen wie den Klimawandel und die berühmte Schere zwischen Arm und Reich aufgreift und weiterdenkt.
An manchen Tagen kann man das Wasser aus der Leitung nicht trinken. Dann erhält man eine Warnung über eine der Katastrophen-Apps. Auch hier gibt es Hierarchien: Wer ein Telefon hat, weiß Bescheid. Die Leute im Erdgeschoss haben oft kein Telefon. Manche von ihnen sind schon an verunreinigtem Leitungswasser gestorben. Auch weil niemand aus den oberen Stockwerken es für nötig hält, die Warnungen nach unten weiterzureichen.
Aber auch der Kriminalfall ist lesenswert. Über Gedächtnisverlust hat man in der einen oder anderen Form schon gelesen, aber wer und wie hier manipulativ eingreift ist gelungenes Kopfkino, verbunden mit der noch größeren Frage, an was sich Harriet eigentlich nicht mehr erinnern soll? Sie war auf dem Weg zur großen Konzertpianistin als es zu einem Zwischenfall kam, der ihr Leben von heute auf morgen auf den Kopf stellte. Wenn sie doch nur wüsste, was passiert ist? Ihre Mutter ist tot, der Vater dement. Vielleicht kann sie alte Frau fragen, die sie gerettet hat, schließlich scheint sie Harriet ja zu kennen. Aus ihrem früheren Leben? Mit zunehmender Dauer gewinnt der Plot an Fahrt und wird zum Finale hin sehr spannend, zumal dann auch die Art der Beeinflussung „erklärt“ wird.
Was, wenn nicht der Führerschein aus einer Parallelwelt kommt, sondern ich in eine hineingeraten bin, in der ich einen habe? Dann würden meine Erinnerungen aus einer anderen Welt stammen.
Ein düsterer Blick in die Zukunft und ein spannender Psychothriller mit einigen Überraschungen; kurzum ein klarer Tipp!
- Autorin: Zoë Beck
- Titel: Memoria
- Verlag: Suhrkamp
- Umfang: 280 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Oktober 2023
- ISBN: 978-3-518-47292-7
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Wertung: 12/15 dpt