Arno Frank – Ginsterburg (Buch)

Die Kleinstadt Ginsterburg, die sich Schriftsteller Arno Frank in seinem Roman wie einen kleinen wimmelnden Ameisenhügel unter die Lupe nimmt, ist fiktiv – und steht stellvertretend für viele andere deutsche Kleinstädte: „Verschachtelte Altstadt am Berg, der sie mit seiner bewaldeten Gipfelkuppe überragte. Oben keine Burg, wo eine Burg sein müsste. Dächer über Dächer, gedeckt mit schwarzem Schiefer und noch feucht vom Tau des Morgens. Ein sehr hoher Kirchenturm, um den die Krähen kreiste, aufgeschreckt vom Klang der Glocken. Enggestaffelte Giebel und Türmchen und Fassaden. Unten Reste einer Stadtmauer, Quader und Efeu. Hier Nistplatz für Schwalben, dort Fundament für Fachwerkhäuser, die sich verträumt im Wasser spiegelten.“ Für die angereiste bunte Zirkustruppe macht das alles den „Eindruck verschlafener Freundlichkeit“, auch wenn sich bereits ein ungutes Gefühl einstellt. Jeweils 1935, 1940 und 1945 wird Arno Frank die Einwohner der Kleinstadt beobachten, deren Schicksale mit Aufstieg und Fall des Nazi-Regimes verknüpft sind.

Harmlos wirkt noch alles Mitte der 30er Jahre: Berlin ist weit weg, Ginsterburg eher provinziell. Gut, aus dem Blumenhändler Otto Gürkel ist mittlerweile der Kreisleiter geworden, der sich in seiner neuen Macht gut gefällt. Der jüdische Verleger und Chefredakteur Landauer bringt sich um, wohlwissend, dass er keinen Ariernachweis vorweisen kann. Der Pfarrer predigt in der Kirche darüber, dass man sich fragen müsse, ob man Unkraut nicht ausreißen müsse. Und in der Buchhandlung von Merle liegt „Barb. Roman einer deutschen Frau“ – „Papierverschwendung“ für sie, aber das gehört halt zum Alltag jetzt dazu. Die Veränderungen und Konsequenzen sind schleichend, kleinteilig, man arrangiert sich, für manchen sind sie sogar von Vorteil. So profitiert Feuilletonist Eugen von der unversehens freigewordenen Stelle in der Chefredaktion des „Ginsterburger Anzeigers“ und erhält von Gürkel auch das Angebot, die verlassene Villa des jüdischen Ehepaars Landauer zu einem günstigen Preis zu erstehen. Merles Sohn Lothar, eher schüchtern, introvertiert und häufig Opfer von Kreisleiter Gürkels Söhnen, erhält die Chance, im Ferienlager seiner Begeisterung für die Luftfahrt nachgehen zu können und wird später ein berühmter und sehr erfolgreicher Kampfpilot mit zahlreichen Abschüssen von feindlichen Fliegern.

In einigen Köpfen wollte partout nicht ankommen, was für große Zeiten angebrochen waren. Zeiten des Umschwungs, Zeiten der Tat.S. 157

1940 ist es mit der Harmlosigkeit und dem unschuldigen Wegschauen vom Weltgeschehen in den meisten Fällen vorbei. Feuilletonist Eugen fühlt sich zum Krieg berufen und geht als Soldat an die Front. Uta, die Schwester seiner Frau Ursel, flüchtet aus Berlin nach Ginsterburg, weil ihr jüdischer Ehemann verhaftet wurde und seitdem verschwunden ist. Lothar wird zum Kriegshelden und mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet. Der Bäcker backt stolz einen Geburtstagskuchen in Form eines Panzers, und Ginsterburg bereitet sich mit Flakstellungen auf die Verteidigung vor und räumt zum Brandschutz die Dachstühle der Häuser leer. Viele glauben dennoch weiterhin, dass der Krieg doch bald gewonnen sein wird.

Arno Frank schaut sich die Normalbürger an, die Mitläufer, die Ängstlichen, die Profiteure. Dabei urteilt er nicht, er beobachtet nur, wie sie wie Ameisen durch ihr Leben wuseln, Hoffnungen und Ängste haben und ihr Leben leben. Wer moralisch falsch oder richtig handelt, wird von keinem allwissenden Erzähler als Botschaft mitgegeben, das macht jeder der vielen Einwohner mit sich selbst aus. Dabei bleibt man als Leser allerdings seltsam fern von den Charakteren. Dafür sind es auch einfach zu viele, die immer mal wieder auftauchen, ihre Szenen haben und dann wieder vom nächsten abgelöst werden. Es entsteht zwar ein Gesamtbild einer Kleinstadt mit ihren verschiedenen menschlichen „Komponenten“, doch emotional sind nur einzelne, teilweise ungeheuerliche oder groteske Szenen. Arno Frank sagt in Interviews, er habe über diese Zeit von seiner Großmutter erfahren und dies zum Anlass für das Buch genommen. Diese persönliche Ebene kommt allerdings nicht so richtig zum Tragen. Deutlich wird allerdings, wie ausführlich Frank recherchiert hat: Zu seinen vielen Perspektiven im Roman mischt er Briefe, Nachrichten, den Gesetzestext zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre oder auch das Führersofortprogramm von Adolf Hitler.

Dramatisch werden die Ereignisse schließlich 1945, als der Krieg endgültig Ginsterburg erreicht. Erst in Form von Sonderzügen mit Evakuierten und dann mit dem Angriff der Royal Air Force. Nun werden auch die einzelnen Schicksale deutlich emotionaler vermittelt – vielleicht hatte man auch einfach genügend Zeit, sich mit den Einwohnern des Örtchens bekanntzumachen.

Fazit:

Die Idee, eine ganze Kleinstadt von 1935 bis 1945 unter die Lupe zu nehmen, ist bei Arno Franks Roman „Ginsterburg“ Fluch und Segen zugleich: Man erhält ein sehr breites Spektrum an Charakteren und Lebensläufen, muss dafür aber auch damit leben, erzählerisch von Person zu Person zu springen und manche nur am Rande und nicht sehr tief kennenzulernen. Sehr gut gelungen ist es Arno Frank, den Alltag in den Mittelpunkt zu rücken, da wo es nicht hochpolitisch zugeht, sondern die Menschen sich arrangieren, mitlaufen, das Beste daraus machen, zu spät aufwachen oder auch einfach ängstlich sind.

Wertung: 11/15 dpt

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