
„Wir sind renoviert. Unsere Fassade gilt als dezent, aber wir fühlen uns prächtig. […] Solltest du also erwägen, in uns zu wohnen, sei versichert: Es ist günstig. Die Lage ist gut, die Leute redlich, sobald man sie kennt.“ Henrik Szánto lässt ein Haus in „Treppe aus Papier“ erzählen. Eines, das einmal der jüdischen Familie Sternheim gehörte, die auch lange Zeit im Haus wohnte. Gute und anständige Vermieter. „Laut Grundbuch heißt unser Eigentümer Alwin Sternheim. Ein stiller Mann mit fein geschnittenen Fingernägeln, der mit größter Sorgfalt Uhrengetriebe im Erdgeschoss pflegt.“ Bis der Nationalsozialismus an Macht gewinnt und jüdische Menschen verfolgt. Die Geschichte der Sternheims kennt die 90-jährige Irma, die noch immer im Haus lebt, und ihre Schuld am Schicksal der Sternheims ihr Leben lang verdrängt und verschwiegen hat. Bis die 15-jährige Nele aus dem oberen Stock ihr begegnet und Hilfe für die Geschichtsklausur in der Schule benötigt.
Das Haus stellt sich auf den ersten vier Seiten vor – mit einem einzigen langen Satz, der durch die Rohre und Mauern geht, durch die Zeiten und Ereignisse der Geschichte, durch die vielen Bewohner:innen, ihre Gedanken, Wünsche und Lebenszyklen. Was für ein geschickter Schachzug, das Haus erzählen zu lassen, das Geschichte atmet und für das die Jahrzehnte alle gleichzeitig durch seine Gemäuer ziehen! Immer wieder webt Autor Henrik Szántó die häusliche Perspektive und die Gefühle (ja, das Haus ist zwar irgendwie zeitlos in sich ruhend, aber dennoch mit moralischen Werten versehen) in die Geschichte von Nele ein, die durch Irma auch neugierig darauf wird, was ihre Vorfahren – also ihre Großeltern – im Nationalsozialismus gemacht haben und beginnt, nachzuforschen und zu fragen.
Während sich diese Geschichte entwickelt, geht es mit dem Haus atmosphärisch durch die Vergangenheit. Fließend und geschmeidig verbinden die Gedanken und Wahrnehmungen des Hauses sich mit dem, was wir und seine Bewohner:innen als Gegenwart bezeichnen. Vielleicht kann man sich die Perspektive des Hauses am besten wie eine Kamerafahrt durch die Flure und Wohnungen vorstellen, eine Kamera, die immer mal wieder bei einem Bewohner verweilt, dann weiterfliegt und auch immer wieder vergangene Bewohner ins Bild rückt.
Dass Irma das Kind von nazitreuen Eltern war, deren Freundschaft mit der jüdischen Ruth Sternheim zu einem schlimmen Ende führt. Dass Nele bei ihren Eltern auf eine ablehnende Haltung stößt, als sie in der Vergangenheit der Familie herumbohrt. Dass das Buch anklagt, dass viele in der Zeit des Nationalsozialismus stillschweigend die Augen vor allem verschlossen, von Regelungen und Gesetzen profitierten und später dann das Verhalten wie unter einem Weichzeichner verschwinden ließen: Das alles sind nicht vollkommen neue Themen – sicherlich wichtig, gut und emotional erzählt, aber nicht überraschend. Die Verbindung über das Gebäude, das alle diese Zeiten und Geschehnisse gespürt hat, macht die „Treppe aus Papier“ allerdings sehr ungewöhnlich.
Und überhaupt: Es ist die Sprache, die dieses Buch so speziell macht. Henrik Szántó verfasst – wie er auf seiner Webseite schreibt – Lyrik, Kurzprosa, Spoken-Word-Texte fürs Ohr und Romane fürs Auge. Seine Themenschwerpunkte: Vielsprachigkeit, Herkunft, Heimaten, Erinnerung und Widerständigkeit. Formal, sagt er dort, suche er nach originellen narrativen Konzepten. In einem Interview mit dem NDR erklärte er zudem: „Wenn der Text passt, dann sage ich: Der Text singt. Ich habe da einen sehr musikalischen Zugang.“ Und ja, der Text von „Treppe aus Papier“ singt, fließt und rauscht durch Gebäude, Jahrzehnte und Menschen.
Fazit:
Wer in Häusern und Wohnungen oft das Gefühl hat, dass die Mauern Geschichte atmen und die Leben der vergangenen Bewohner:innen irgendwie immer zu diesen vier Wänden gehören, wird den Roman „Treppe aus Papier“ von Autor Henrik Szántó sehr zu schätzen wissen. Ein Roman, in dem ein Haus erzählt – mit einer klingenden und poetischen Sprache, schönen Bildern und dem Verständnis, dass Geschichte nicht chronologisch, sondern auch zeitgleich und immer miteinander verwebt ist.
- Autor: Henrik Szántó
- Titel: Treppe aus Papier
- Verlag: Blessing
- Erschienen: 08/2025
- Einband: Hardcover
- Seiten: 224
- ISBN: 978-3-89667-778-5
- Sonstige Informationen: Henrik Szántó im Interview bei Galore und beim NDR
- Verlagsseite zu Henrik Szántó: Treppe aus Papier

Wertung: 14/15 dpt







