Interview mit Andreas Pflüger über seinen neuen Roman „Kälter“

Interview mit Andreas Pflüger über seinen neuen Roman „Kälter“, der schon jetzt ein Favorit auf den Deutschen Krimipreis sein dürfte.

Booknerds: „Herr Pflüger, in der Krimiszene sind Sie ein von der Kritik hochgelobter Autor und gewannen mit Ihrem letzten Buch „Wie Sterben geht“ (zur Rezension) den Deutschen Krimipreis 2023 (National). Da aber nicht alle booknerds eingefleischte Krimileser sind, stellen Sie sich doch bitte kurz vor.“

Andreas Pflüger: „Ich bin achtundsechzig Jahre alt, wohne als Saarländer in Berlin, liebe meine Frau, meine Harley, Reisen in die Ferne, Musik von Dylan und den Stones, aber auch die Callas, gute Hotels, scharfes Essen, Rotwein und Espresso, Filme, bei denen man in den Kinosessel gepresst wird, eine Handvoll Freunde, die fürs Leben sind. Lange war ich Drehbuchautor, unter anderem für den „Tatort“, bis ich mich vor sieben Jahren ganz auf meine Romane konzentriert habe, die in der Welt internationaler Polizeibehörden und Geheimdienste spielen. Meine Themen sind: Schuld, Verrat, Demut, Vergebung, Freundschaft, Rache. All das finde ich dort wie unter einem Brennglas. Aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich Krimis schreibe. Sagen wir: Ich schreibe Romane der etwas härteren Art.“

Booknerds: „Als gefragter Drehbuchautor haben Sie sich also irgendwann entschieden, nicht mehr für den öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber tätig zu sein. Was gab den Ausschlag?“

Andreas Pflüger: „Leser meiner Romane wissen, dass sie geografisch breit aufgestellt und opulent erzählt sind. Wenn man so will, lebe ich darin meine Freude aus, nicht mehr den Budgetzwängen des deutschen Fernsehens und Kinos unterworfen zu sein. Ich genieße es, keinen Gedanken an die Zahl von Statisten oder den Aufwand von Actionsequenzen verschwenden zu müssen. Als Drehbuchautor habe ich mit meinem Freund Murmel Clausen zuletzt noch den „Tatort Weimar“ als Spaßprojekt gemacht, aber irgendwann wurde der Spagat zwischen dem Fernsehen und meinen Romanen zu groß. Natürlich hat mein schriftstellerischer Erfolg, der mit Jenny Aaron (zu den Rezensionen) kam, mir die Entscheidung erleichtert.“

Booknerds: „Bevor wir auf das aktuelle Buch zu sprechen kommen, muss ich kurz auf „Operation Rubikon“ (zur Rezension) eingehen. Knapp achthundert engbedruckte Seiten mit einer unfassbar hohen Anzahl von Personen, Organisationen und Handlungsorten. Hatten sie keine Bedenken, damit potentielle Leser abzuschrecken, und wie lange haben Sie an diesem Buch gearbeitet?“

Andreas Pflüger: „Ehrlich gesagt denke ich beim Schreiben nie an die Leser. So wie ich auch nie an Kritiker denke oder mich überhaupt frage, ob oder wie dies oder das gefallen könnte. Ich schreibe Romane, die ich schreiben muss, und am Ende schreibe ich für mich selbst. An „Operation Rubikon“ hatte ich fünf Jahre gearbeitet und bin darüber krank geworden, weil ich über jede – auch physische – Grenze ging. Man könnte mich als Besessenen bezeichnen – was sich übrigens in der Bedingungslosigkeit meiner Heldinnen spiegelt. Ich selbst vergleiche die Arbeit an einem Roman mit der Besteigung eines Achttausenders, bei dem man in die Todeszone muss.

Booknerds: „Sie sind als Recherchefreak bekannt, was meines Erachtens eine gelinde Untertreibung ist. In „Kälter“ gibt es unzählige Verweise auf Filme, Bücher und Musikwerke. Wo bleibt da noch die Zeit für die eigentliche Schreibarbeit?“

Andreas Pflüger: „Das ist getrennt voneinander zu sehen. Die Recherche findet vor dem Schreiben statt und kann sich über Monate bis zu einem halben Jahr erstrecken. Manchmal kommt es auch vor, dass ich mitten im Roman unterbrechen muss, weil eine Nachrecherche nötig ist, denn meine Bücher gehorchen keinem strengen, vorher gefassten Plan. Ein Autor hat seinen Figuren zu folgen, nicht umgekehrt, also passiert es, dass zum Beispiel meine Heldin etwas von sich offenbart, in das ich mich erst einarbeiten muss. Das kann ein Ort sein, eine Philosophie, ein zeitgeschichtliches Ereignis. In meinem Roman „Ritchie Girl“ war es Budapest während des 2. Weltkriegs. Die kulturellen Verweise und Anspielungen in meinen Romanen bedürfen keiner Nachforschung; das Wissen darum ist das Ergebnis einer lebenslangen Leidenschaft für Literatur, Kunst, Film, Philosophie. Und Geheimdienstrecherche macht inzwischen den kleinsten Teil der Vorarbeit aus. Nach so vielen Jahren stehe ich natürlich im Stoff, dafür können Sie mich nachts um drei wecken. Ab dem ersten Satz des Romans ziehe ich dann durch. Work, eat, sleep, repeat, circa achtzig Arbeitsstunden am Schreibtisch pro Woche. Für diese Zeit begebe ich mich in eine Art Quarantäne und lebe ziemlich asozial. An „Kälter“ habe ich rund fünf Monate geschrieben, das ist für fünfhundert Seiten schnell, zumal ich meine Romane selbst setze, also typografisch gestalte. Jeder hat sein eigenes Tempo.

Booknerds: „Sie haben bekanntlich enge Kontakte zu dem früheren Präsidenten des Bundeskriminalamtes Hans-Ludwig Zachert, der sich in der Figur des Richard Wolf wiedererkennen dürfte. Außerdem kennen Sie Bodo V. Hechelhammer, der über zehn Jahre das „Historische Büro“ des Bundesnachrichtendienstes leitete und unter anderem ein fundiertes Werk über den Spion Heinz Felfe („Spion ohne Grenzen“ – zur Rezension) schrieb. Wie kamen die Kontakte zustande, und stimmt es, dass Sie, als einziger Autor bisher, die ehemalige BND-Zentrale in Pullach besuchen durften? Wie darf man sich das vorstellen?“

Andreas Pflüger: „Hans-Ludwig Zachert habe ich vor fast dreißig Jahren kennengelernt. Das lief über einen Filmproduzenten, der mich dazu bewegen wollte, eine Serie über Organisiertes Verbrechen zu schreiben – zu der ich aber keine Lust hatte. Später wurde daraus eine enge Freundschaft, und Hans fand sich mit seinem Alter Ego Richard Wolf in meinen Romanen wieder. Er hat mir viele Türen geöffnet; später kamen andere Kontakte dazu. Ich habe im BKA und im BND eine stabile Fangemeinde. So lernte ich auch Bodo Hechelhammer kennen – einen Mann mit überragendem Fachwissen. Mein Tag in Pullach war faszinierend, das ist eine Welt, die den meisten Menschen verschlossen bleiben dürfte. Am verrücktesten fand ich dort die Minibunker, Betonpilze, die sich überall auf dem Gelände finden und nur für eine Person Platz bieten – für den Fall, dass der- oder diejenige es nicht geschafft hätte, bei einem Enthauptungsschlag der Sowjets rechtzeitig in den Atombunker zu gelangen. Ich bin in so ein Ding reingestiegen, stand in der Enge, in der man sich kaum bewegen kann, und guckte durch einen Sehschlitz nach draußen. Kein erstrebenswertes Ende, glauben Sie mir.

Booknerds: „Woraus bestehen die Schwerpunkte Ihrer Recherchearbeit: Interviews, Archive und Bibliotheken, Reisen an die Handlungsorte oder in erster Linie online?“

Andreas Pflüger: „Natürlich lese ich viel. Bei „Wie Sterben geht“ waren es um die achtzigtausend Seiten Fachliteratur; das war sehr fordernd, weil ich mich in das Moskau von 1980-1983 hineingraben musste. Am wichtigsten sind jedoch die Reisen zu den Spielorten (in Moskau nicht möglich) und die Gespräche mit Menschen. Für „Kälter“ etwa mit Holger Vitz, bei der BKA-Sicherungsgruppe Kommandoführer des Bundeskanzlers. Oder mit den beiden Polizisten, die in Realiter auf Amrum Dienst tun. Man kann so viel lesen wie man will, am Ende muss man eine Welt fühlen, um sie neu erschaffen zu können.“

Booknerds: „Wie kamen Sie in „Kälter“ ausgerechnet auf den „Möwenschiss“ Amrum als Ausgangsort der Handlung?“

Andreas Pflüger: „Ich suchte nach der kleinsten und einsamsten Polizeidienststelle Deutschlands. Eigentlich wäre das Spiekeroog gewesen, denn dort hält nur ein Beamter die Stellung. Aber ich brauchte eine Insel mit Autoverkehr, das gab den Ausschlag. Erst hatte ich Zweifel, ob ich auf Amrum alles finden würde, was ich brauchte, doch vor Ort wurde mir klar, dass es perfekt war. Ich liebe auch die Sprache der Einheimischen, „Öömrang“, eine Spielart des Friesischen, die wunderbar poetisch ist. Sie haben zum Beispiel ein Wort für etwas, das im Hochdeutschen nur in einem ganzen Satz ausgedrückt werden könnte: Fremde, die nicht von Amrum sind. Das sind „Fräämen“. Love it.

Booknerds: „Beschreiben Sie uns kurz die Protagonistin Luzy Morgenroth und die Bedeutung ihres Namens.“

Andreas Pflüger: „Sie ist fünfzig und schleppt fünfzehn Kilo Übergewicht mit sich herum. Luzy lebt seit acht Jahren auf Amrum, die Einheimischen kennen sie als hilfsbereite, freundliche Frau, die vielleicht etwas melancholisch wirkt. Mit ihrem Kollegen Jörgen schiebt sie als Polizistin einen ruhigen Dienst, zumal Ende Oktober, wenn die Touristen weg sind. Als fünf KGB-Killer auf die Insel kommen, muss sie es allein mit ihnen aufnehmen, denn Jörgen ist ihr keine große Hilfe. Wenn sie dann mit diesen Männern fertig ist, beschleicht den Leser die Ahnung, dass Luzy nicht immer eine Provinzpolizistin war. Was den Namen betrifft: Morgenroth beinhaltet die Aussicht auf einen neuen Tag. Im Roman gibt es ein Leitmotiv von Luzy, das einem Grabstein auf Amrum entnommen ist: Der Hoffnung ward ich zwar beraubt. Und gleichwohl hofft ich doch.

Booknerds: „Gegen Luzy verblassen alle bekannten Action- und Superstarhelden. Haben Sie selber Personen erlebt, die zumindest ansatzweise ihre Fähigkeiten haben? Sind womöglich die Agenten des Mossad ihr Vorbild oder allgemein die Kampfkunst Krav Maga, womit wir in Israel wären?“

Andreas Pflüger: „Ich habe im Laufe der Jahre Menschen kennengelernt, deren Physis meinen Verstand herausgefordert hat, das kann ich Ihnen versichern. Krav Maga habe ich zum ersten Mal in einem Roman so groß eingesetzt, zuvor war es hauptsächlich Karate („Jenny-Aaron-Trilogie“) und Boxen („Wie Sterben geht“). Sicher hatte es mit Israel zu tun, wo Luzy vom Schin Bet ausgebildet wurde, der diese Kampftechnik praktiziert. Meine Actionszenen mögen spektakulär sein, aber bewegen sich immer auf dem Boden der Schwerkraft. Schließlich schreibe ich nicht „Spiderman 6“. Schauen Sie sich mal Frauen beim Bodenturnen oder auf dem Schwebebalken an. Sie und ich könnten das nicht, selbst wenn wir wesentlich jünger wären. Dennoch ist das kein Gegenbeweis für die Existenz extremer Körperbeherrschung.“

Booknerds: „Mit Luzys Training in Israel beginnt sozusagen das ganze Übel. Als Sie an „Wie Sterben geht“ arbeiteten, fiel Russland in der Ukraine ein. Jetzt dürfte ihre Arbeit mit den Geschehnissen in Israel und dem Terroranschlag der Hamas zusammengetroffen sein. Erschreckt Sie diese „Duplizität“?“

Andreas Pflüger: „Ja. Wenngleich man es nicht wirklich vergleichen kann. »Wie Sterben geht“ spielt in Russland, einem Land, das ein anderes überfallen hat und ganz Europa mit Krieg bedroht. Aber Israel, das in „Kälter“ ein wichtiger Handlungsort ist, wurde vor zwei Jahren von der Hamas angegriffen und Opfer eines beispiellosen Terrorakts, bei dem Frauen, Kinder, Greise, Shoah-Überlebende verstümmelt, vergewaltigt und ermordet wurden. Ich betone das mit Bitternis, weil hierzulande und überhaupt im sogenannten „Westen“ eine Täter-Opfer-Umkehr stattfindet. Es mag sein, dass die Hamas den Krieg um die Worte und Bilder gewonnen hat. Aber die Hamas ist, was sie ist: Abschaum.

Booknerds: „In Ihrem Nachwort schreiben Sie, dass Sie kein Land mehr fasziniert als Israel. Können Sie dies näher ausführen, und wie bewerten Sie die aktuelle Situation? Ist ein Frieden wirklich denkbar, und wie sollte sich Deutschland verhalten?“

Andreas Pflüger: „Man muss einmal in Jerusalem gewesen sein und diesen „Clash of religions“ erlebt haben: drei Weltreligionen auf einem Quadratkilometer. Ich bin weitgereist und mit vielen Kulturen vertraut, aber so herzlich wie in Israel sind Menschen mir selten begegnet. Ständig war mir bewusst, dass jüdische Einrichtungen bei uns unter Polizeischutz stehen. Stehen müssen. Das beschämt meine Frau und mich tief. Wie ich über Netanjahu denke, habe ich in einer Reihe von Interviews bereits kundgetan. Für ihn und sein rechtsextremes Kabinett besitze ich nicht die geringste Sympathie. Aber wir haben als Deutsche eine große Verantwortung, alles zu tun, um Israel als Staat zu beschützen. Den Grund dafür muss ich sicher nicht ausführen. Leider frage ich mich immer öfter, wie weit es mit diesem – richtigen! – Wort über die Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson eigentlich her ist. Der letzte Satz im Nachwort zu „Kälter“ lautet: Schande hat viele Facetten.“

Booknerds: „Sie schreiben bekanntlich gern Gedichte. Nichts gegen einen Lyrikband, aber dürfen wir dennoch in Zukunft auf weitere Thriller hoffen oder anders gefragt, was sind die nächsten Projekte?“

Andreas Pflüger: „Dass ich irgendwann einen Lyrikband veröffentliche, schließe ich nicht aus. Und mein nächster Roman? Ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung, wovon er handeln wird. Wenn ich ein Buch beendet habe, brauche ich Monate, um Abschied von meinen Figuren zu nehmen und wieder zu Kräften zu kommen. Dann erscheint der Roman, und ich muss das nächste Vierteljahr in die Zirkusarena traben, Auftritte absolvieren, Interviews geben usw. Frühestens im kommenden Februar werde ich einen Gedanken an meine nächste Arbeit zulassen. Aber sie können davon ausgehen, dass der Roman im Herbst 2027 erscheinen wird. So steht es in meinem Vertrag mit Suhrkamp, und ich pflege meine Verträge zu erfüllen.“

Booknerds: „Herr Pflüger, wir danken Ihnen für dieses Interview und wünschen weiterhin viel Erfolg. Nicht nur beim Deutschen Krimipreis.“

Andreas Pflüger: „Auch auf Preise sollte man nicht schielen, habe ich noch nie. Sollte es geschehen, freue ich mich. Aber es sind in diesem Jahr einige Romane von hochgeschätzten Kollegen und Kolleginnen erschienen, denen ich jede Auszeichnung gönne.“

Das Interview führte Jörg Kijanski. Hier finden Sie die aktuelle Rezension zu „Kälter“ und hier weitere Rezensionen über Romane von Andreas Pflüger.

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1 Kommentar
  1. Tolles Interview, lieber Jörg. Als Nicht-Krimi-Leserin bin ich stark beeindruckt von der Qualität der Antworten, die deine guten Fragen hervorgeholt haben. Ein spannender Blick hinter die Schreibtisch-Kulisse eines interessanten Autors. Danke dafür!

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