Andreas Pflüger – Kälter (Buch)

Sherpas, Tangos und der ganze Irrsinn

Kälter
© Suhrkamp

Oktober 1989. Auf der Insel Amrum haben die beiden Inselpolizisten Luzy Morgenroth und ihr Partner Jörgen gewöhnlich wenig Arbeit. Es geht beschaulich zu, jeder kennt jeden, die Touristen sind schon wieder weg. Doch dann erhalten sie einen Meldeschein des Hotels „Deichgraf“, in dem ein Mann eine Nacht verbracht hat und bereits wieder abgereist ist. Seit den Anschlägen der RAF sind die Meldungen Pflicht und die Überprüfung zeigt, dass Name und Adresse des Gastes nicht stimmen.

Am nächsten Tag gibt es eine Feier zu Luzys fünfzigstem Geburtstag und wenig später meldet Wirtin Ali, dass ihr Bruder Tamme verschwunden sei. Er arbeitet auf der Fähre und war beim Anlegen in Amrum nicht mehr an Bord. Im letzten Jahr verlor Tamme auf schreckliche Weise seine Tochter, doch die Umstände auf der Fähre ergeben für Luzy ein klares Bild. Kein Selbstmord.

„Die Hauptstadt?“

„Ja, fast neunhundert Einwohner. In der Rushhour kommen manchmal drei Autos hintereinander.“

„Für die Polizei muss es hier brutal sein.“

Auf der Fähre waren nur fünf Autos, darunter ein fremdes mit fünf Insassen, die in dem angemeldeten Hotel nicht eincheckten. Sie müssen noch auf der Insel sein, denn angesichts der Wetterbedingungen wurde der Fährbetrieb eingestellt. Luzy verspricht Ali, den Tod ihres Bruders zu rächen und hat allein durchaus gute Chancen. Auf Hilfe vom Festland will sie jedenfalls nicht warten.

„Was sagst du, wenn du ihr in die Augen schaust? Dass du auf zwei Idioten wartest, bei denen die Leichenstarre jeden Morgen im Büro einsetzt?“

Wenngleich sie die letzten acht Jahre auf Amrum verbrachte, war Luzy nicht immer eine einfache Dorfpolizistin. Sie jagt die Mörder und findet dabei einen Hinweis auf Babel, den meistgesuchten Terroristen der Welt. Er starb angeblich vor vielen Jahren und ist der Grund dafür, dass sie sich auf Amrum zurückzog. Mit Unterstützung ihres alten Chefs, BKA-Präsident Richard „Tuareg“ Wolf, dessen Personenschützerin sie einst war, macht sie sich auf die Suche nach Babel, während sich in Berlin die Mauer öffnet.

Thriller des Jahres?

Wie Sterben geht“ erhielt den Deutschen Krimipreis 2023 und es ist keine gewagte Prognose, dass Andreas Pflüger mit „Kälter“ erneut den Preis gewinnen könnte. Wer auf fundiert recherchierte, actionreiche und dennoch äußerst unterhaltsame Thriller steht, kommt an Pflüger („Operation Rubikon“, „Ritchie Girl“ und Jenny-Aaron-Trilogie) derzeit nicht vorbei. Es sei denn, man hat eine ausgeprägte Abneigung gegen Spionageromane, denn natürlich sind auch hier wieder zahlreiche Organisationen am Start. Schin Bet, KGB und CIA sowie natürlich das MfS, sprich die Stasi, deren Mitglieder gerade in Scharen zum BND überlaufen. Der Mauerfall macht es möglich, niemand will zuvor dabei gewesen sein. Erinnerungen an die Nachkriegsjahre werden wach.

„1972 war ich bereits entschlossen, beim BKA zu kündigen. Dann kam das Münchner Olympia-Attentat. Ich bin geblieben, weil ich bis heute hoffe, dass wir besser sind als das.“

„Wie konnten die Deutschen die Spiele einfach fortsetzen? Als hätte Leni Riefenstahl Regie geführt.“

Zu dem Inhalt des Romans soll nicht mehr verraten werden, denn dieser sprüht vor Überraschungen und Wendungen. Es sei aber erwähnt, dass einige Personen aus „Wie Sterben geht“ erneut mitspielen, wie man schon an Richard Wolf sieht, dessen Figur angelehnt ist an den früheren BKA-Präsidenten Hans-Ludwig Zachert; ein Freund des Autors. Hier liegen seine größten Stärken. Er ist ein Recherchefreak und bestens vernetzt, kennt neben Zachert beispielsweise Bodo von Hechelhammer, der über zehn Jahre das „Historische Büro“ des Bundesnachrichtendienstes leitete und ein fundiertes Werk über den Spion Heinz Felfe („Spion ohne Grenzen“) schrieb, und durfte sogar die ehemalige BND-Zentrale in Pullach besichtigen. Diese Sorgfalt hat ihren Preis, denn beim Lesen ist Konzentration gefragt. Begriffe werden zwar erklärt, aber man muss erinnern, welche Geheimdienstorganisation mit dem Institut oder der Insel gemeint ist. Zudem haben die meisten Figuren mindestens einen Tarnnamen und dann wüsste man natürlich auch gern, wer auf wessen Seite steht.

„Jiu Jitsu ist Skigymnastik.“

Die Einblicke in die Welt der Geheimdienste und Personenschützer, deren Ausbildung und Arbeit, sind sehr detailreich. Doch wenngleich der Autor dies alles äußerst bild- und lebhaft vorstellt, es bleibt eine irreale Welt für sich. Aus Sicht von Luzy Morgenroth ist es die wirkliche Welt, wobei sie sich ein Leben in „der Welt der Anderen“ kaum vorstellen kann. Immerhin, auf Amrum hat sie es jahrelang versucht. Darüber hinaus glänzt der Autor mit seinem mehr als beeindruckenden musikalischen, literarischen und filmischen Wissen, indem er in unzähligen Situationen entsprechende Verweise anstellt. Stephen Hawking und Harry Lime („Der dritte Mann“) lassen neben vielen anderen grüßen. Dies alles mit einer großzügigen Portion Humor, die einen fast auf jeder Seite zum Schmunzeln zwingt.

„Wie ist es in der Welt der Anderen?“

„Sie wären überrascht. Es gibt dort Lachen und Langeweile. Und etwas absolut Irres, nennt sich Vertrauen.“

„Davon habe ich gehört. Es soll viel Übung brauchen.“

Anders wäre der Irrsinn zwischen all den Sherpas (Personenschützer) und Tangos (Auftragskiller) kaum auszuhalten, zumal die Protagonistin eine Heldin ist gegen die Jason Statham oder Superman blass aussehen. Handlungsorte sind neben Amrum und Berlin, Israel, Südfrankreich, Moskau, die Schweiz und nicht zuletzt Wien, wie das Coverbild erahnen lässt. Zudem werden die Geschehnisse rund um den Mauerfall wieder lebendig und bieten eine spannende Geschichtsstunde. Großes Kopfkino! Ob sich jemand an eine Verfilmung wagt?

  • Autor: Andreas Pflüger
  • Titel: Kälter
  • Verlag: Suhrkamp
  • Umfang: 495 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: Oktober 2025
  • ISBN: 978-3-518-43258-7
  • Produktseite

Wertung: 14/15 dpt

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