Klappe, Text! Folge 3 – Arwyn Yale: Nur eine Kopie


Klappe, Text!Nur eine Kopie

Sie zog die Stirn in Falten, öffnete den Mund und biss die perlweißen Zähne fest aufeinander, bis ihr Kiefer zu schmerzen begann. Mit ihrem Zeigefinger malte sie winzige Kreise auf Wangen und Stirn.
»Was tust du denn da, Lisa?«
Die Stimme ihrer Schwester bohrte sich wie Draht durch ihren Gehörgang. Mit dem Zeigefinger pulte sie an ihrem Ohr herum, als wollte sie den Draht entfernen, der mittlerweile glühend heiß geworden war.
»Nichts!« Sie schlug die Badezimmertür zu und wartete, bis der Knall in ihrem Kopf verhallt war. Doch das Echo schien kein Ende zu nehmen. Überhaupt schien sich alles ständig und überall zu wiederholen. Geräusche, Stimmen, Musik.
Seit Tagen begleitete sie ein Ohrwurm, den sie leise mitsummte, obwohl sie weder den Titel, noch den Text kannte. Schließlich kam es nur auf die Melodie an. Der Ton machte die Musik, hatte ihre Mutter früher immer gesagt. Mit dem richtigen Ton konnte man sogar Beleidigungen so hübsch verpacken, so dass sie beinahe glitzerten, wenn man sie gegen das Licht hielt.
Sie presste ihre Lippen fest aufeinander und grinste ihr Spiegelbild an, das ihr plötzlich so fremd war, als hätte sie ihr Gesicht verloren und ein anderes bekommen, das nicht so recht zu ihr passen wollte.
»Wer bist du?«, flüsterte sie und verlor sich im Klang ihrer Stimme, die immerzu in ihrem Kopf widerhallte. »Hör auf! Hör bitte auf!«
Eine warme Hand umklammerte ihr Handgelenk, das unkontrolliert gegen die Kante des Waschbeckens donnerte und ein Echo ungesagter Worte nach sich zog, die sich in ihrem Kopf stauten und zu entfliehen versuchten, doch die Ausgänge waren versperrt.
»Nirgendwo geht es hinaus.« Erschöpft ließ sie sich auf die kalten Fließen sinken, lehnte sich gegen den Rand der Badewanne und versteckte ihr Gesicht in den Händen.
»Wovon redest du? Hier ist die Tür, geh raus, wenn du raus willst, aber blockier’ hier nicht das Badezimmer mit deinem wirren Gerede!«
»Kennst du das, wenn dein Kopf so voll ist, so voller Gedanken, die du nicht in Worte fassen kannst und die sich durch deine Gehirnwände bohren, auf der Suche nach einem Ausgang, aber jeder Ausgang ist blockiert und so hallt alles in deinem Kopf in einer Endlosschleife? Du verstehst kein Wort, weil die Buchstaben fehlen. Sie sind… wie weggewischt. Zurück bleibt nur eine matte Fläche, die weder Boden, noch Decke ist. Vielleicht ist sie beides, aber du findest es einfach nicht heraus, egal, wie oft du diese Fläche drehst und wendest.«
Ihre Schwester sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, die Arme vor der Brust verschränkt, schüttelte sie energisch den Kopf.
»Komm mal klar, ey!«
»Klar kommen?«
»Ja, du könntest damit anfangen, dir einen ordentlichen Haarschnitt verpassen zu lassen. Außerdem ist die rote Farbe schon voll raus gewaschen, das sieht scheiße aus. Und vernünftige Klamotten könntest du dir auch mal anziehen. Kein Mensch trägt mehr Jeansröcke.«
»Müsste ich nicht jemand sein, um einen Haarschnitt zu haben?«
»Du bist du, Lisa!«
»Ich glaube ich bin nur eine Kopie.«
Ihre Schwester runzelte die Stirn, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Eine Kopie von wem?«
»Ich weiß es nicht. Von meinem Spiegelbild vielleicht.«
»Dein Spiegelbild ist eine Kopie von dir, nicht anders herum.«
»Das denkt jeder. Aber das stimmt ganz oft nicht. In meinem Fall stimmt es jedenfalls nicht. Ich habe mich all die Jahre meinem Spiegelbild angepasst. Hab gelacht, nachdem es längst geweint hat. Habe genickt, wenn es laut »Nein« schrie. Ich habe einfach eine Rolle gespielt, die ich vor dem Spiegel einstudiert habe. Solange, bis ich mich selbst getäuscht habe.«
»Weißt du was dein Problem ist? Du denkst zu viel nach. Hab doch einfach Spaß!«
»Du verstehst mich nicht.«
»Ach nein?«
»Nein. Dein Spiegelbild führt längst ein getrenntes Leben von dir und du bist hier und trittst auf der Stelle, ohne es auch nur zu merken. Ich bin niemand. Aber ich weiß es zumindest. Du bist niemand, der vorgibt, jemand zu sein.«

© Arwyn Yale

Über Arwyn Yale

 

Was ist “Klappe, Text!”?

  • “Klappe, Text!” ist eine neue Rubrik auf booknerds.de. In dieser Rubrik haben all die, die etwas Interessantes zu sagen haben (Autoren, Künstler, Blogger und, und, und…), die Gelegenheit, bei uns einen freien Text zu veröffentlichen. Das kann eine Kurzgeschichte sein, ein Aufreger, eine Huldigung, ein Beitrag über siebenäugige Flugschlangen oder über vierzitzige Beutelstabheuschrecken. Über Politik oder Literatur. Lustiges. Philosophisches. Gedankenflocken. Experimentelles. Unsinn. Ganz egal. Wichtig ist nur, dass es auf irgend eine Weise Substanz besitzt. Wer zu dieser Rubrik selbst beitragen möchte, kann uns jederzeit via E-Mail an klappe-text[ät]booknerds.de einen Text zusenden. Wir freuen uns auf zahlreiche Einsendungen!

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