Pyotr Magnus Nedov – Zuckerleben (Buch)


Pyotr Magnus Nedov - Zuckerleben (Cover © Dumont Buchverlag)Sonderbar mutet er an, der Debütroman des im moldawischen Chişinău geborenen und heuer in Köln lebende, in seinem Leben viel herumgekommene (Moldawien, Rumänien, Österreich, Wien, Paries, Montreal und Moskau…) Autor Pyotr Magnus Nedov: In vorliegender Hardcoverversion erweist sich dieses Buch als besonderes haptisches Erlebnis, da es nicht nur griffig-schwer in der Hand liegt, sondern komplett gummiert ist und ein Reifenprofil in die Oberfläche geprägt wurde. Doch auch inhaltlich ist “Zuckerleben” eher unkonventionell.

Nedov lässt uns sogleich den Ereignissen zweier unterschiedlicher Szenarien hinsichtlich Zeit und Ort beiwohnen. Einer der Erzählstränge – der deutlich präsentere von beiden – spielt im 1991er Nordmoldawien, in der Industriestadt Dondușeni, als rundherum die Sowjetunion auseinanderbricht und die Krise ihre hässliche Fratze zeigt. Mitten im Umbruch Europas versucht der damals noch junge Spekulant Pitirim Tutunaru, sich aus dem Staub zu machen und in Italien ein schönes Leben zu leben. Als er erfährt, dass der spurlos verschwundene Zuckerfabrikdirektor ganze vierzig Tonnen Zucker hinterlassen hat, begibt er sich auf die Suche nach der süßen, weißen, kristallinen Substanz und findet sie bald. Mit Unterstützung eines ehemaligen und sich nun in Rente befindenden Rentners wird er den Zucker zu Samagon, einer russischen, selbstgebrannten Spirituose,  verarbeiten, die dem Wodka recht ähnlich ist, aber oftmals deutlich hochprozentiger ist und auch “unreiner Wodka” genannt wird. Er versucht, ihn zu monetarisieren, denn ohne Geld wird er nicht in das stiefelförmige Land reisen können.

Der zweite Erzählstrang spielt zwanzig Jahre später in Italien, welches sich nun selbst in einer Krise befindet – Toylan Andreewitsch aus Moldawien ist auf der Suche nach seiner georgischen Teedose. Als er mit seinem Ford Transit seine Suchfahrt in den Abruzzen fortsetzt, kleben ihm Angelo und Cristina, ein junges und lebensmüdes Liebespaar, beinahe auf der Stoßstange. Sie haben beide ihren Job in der Zuckerfabrik von Termoli verloren und sind entsprechend desillusioniert. All ihre Träume sind geplatzt. Andreewitsch nimmt sie mit und versucht sie wieder aufzubauen, indem er von seinen jungen Jahren erzählt und ihnen Mut macht – nicht zuletzt, indem er schildert, wie eine wirkliche Krise aussieht.

Mit viel Tempo reißt Pyotr Magnus Nedov den Leser mit und entführt ihn in zweierlei Krisensituationen, wobei er für beide Szenarien eine ureigene Stimmung erschafft. Während der in Italien spielende 2011er Teil ernster und stellenweise auch düsterer ist, finden sich im Buchpart, der das doch deutlich krisengeschütteltere Moldawien der frühen Neunziger zeigt, Unmengen von sonderbarem Humor wieder. Das beginnt bei den zuweilen skurrilen Charakteren und erstreckt sich über die gelegentlich ulkigen Dialoge und mitunter makaberen Situationen bis hin zu den ironisch-inflationären Beinamenwiederholungen (“Ewig Hungriger Historiker”, “Der Held der sozialistischen Arbeit”).

Zwar sind die zahlreichen, für den deutschen Leser doch fremd bis exotisch klingenden Personen- und Ortsnamen ein wenig schwierig zu erfassen, und es bleibt nahezu ein Rätsel, was eine “Doktorenwurst” ist, doch hat man sich erst einmal an die Besonderheiten dieses Werks gewöhnt, erweist sich dieses intelligent geschriebene, zweispurige, literarische Roadmovie (dessen Spuren sich vielleicht irgendwann zu einer Spur vereinen?), welches perfektes Material für ein Independent-Roadmovie liefert und an wilden Wendungen nicht arm ist, als ein – Achtung, Phrasenalarm! – wahrer Pageturner.

Denn einerseits beuteln die negativen wirtschaftlichen Entwicklungen das Leben der Pro- und Coprotagonisten doch erheblich, andererseits sind manche Situationen so überzeichnet dargestellt und erwischen einen dermaßen kalt, dass man lauthals lachen muss. In “Zuckerleben” ist alles drin: Drama, Politik, Lebenserfahrung, Geschichte, Wissen, Schwarzer Humor, Satire und ein Stück weit auch Kriminalroman – vor allem aber eine geballte Ladung Mut und Hoffnung. Ein Nein in Richtung Aufgabe, ein Ja in Richtung Leben.

Nedovs Debüt ist herrlich mainstreamfern, angenehm positiv und wirkt trotz aller oftmals doch sehr seltsamen Momente stets ehrlich und echt. Und irgendwie möchte man letztendlich doch wissen, wie es mit Toylan Andreewitsch weitergehen mag. Doch ob es eine Fortsetzung geben wird? Zu wünschen wäre es.

Cover © DuMont Buchverlag

Wertung: 12/15 dpt


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