Love Exposure (Spielfilm, Blu-ray)


Love Exposure (Cover © Rapid Eye Movies)Wenn zum Abspann des vierstündigen Films das Lied Hollow Me der japanischen Indie-Band Yura Yura Teikoku läuft, übersetzen die Untertitel die Lyrics. Der Songtext klingt erst einmal banal, fasst aber gerade darin ziemlich gut zusammen, was Love Exposure ausmacht: »Ich bin eine Höhle. Ein dummes Kind läuft durch mich hindurch.« In seinen Grundzügen ist die Geschichte eine einfache Romanze mit allem, wonach das dumme Kind in uns verlangt. In seiner Inszenierung ist er ungefähr so anspruchsvoll wie Platons Höhlengleichnis.

Gleichzeitig entzieht der Regisseur Sion Sono1 auch diesem einfachen Gegensatz von Inhalt (Geschichte) und Form (Inszenierung) die Grundlage – schlicht, weil der ziemlich abenteuerliche Verbund verschiedener Filmstile unter dem ironisierten romantischen Leitmotiv ausgezeichnet funktioniert. Die ersten anderthalb Stunden sind aus der Perspektive des braven Oberschülers Yu Honda erzählt, der von seinem Vater, einem katholischen Priester, zur Beichte gezwungen wird. Bei dem Versuch zu sündigen lernt er nicht nur die wohl drei treuesten und sympathischsten Freunde kennen, die man sich vorstellen kann, sondern wird zum legendären Upskirt-Fotografen – bis das Wunder geschieht, eine der übertriebenen Zäsuren in diesem Film, die einerseits vor grellem Humor zu platzen scheinen und andererseits den praktischen Zweck erfüllen, die Geschichte nachvollziehbar zu halten. Das ist auch bitter nötig.

Love Exposure (Filmstill 4 © Rapid Eye Movies)Denn bis hierhin gibt es eine halbstündige Sequenz, in der Ravels Boléro läuft, während Yu Höschen am lebenden und unwissendem Modell fotografiert, um seine wahre Liebe zu finden; es gibt Wackelkameras, die so nah an den Menschen sind, dass man fast das Gefühl hat, es mit einer Doku-Soap zu tun zu haben; es gibt Rückblenden in 8mm-Optik und Zwischentitel, die ein Neuntklässler in einem PowerPoint-Workshop nicht anders gestaltet hätte, es gibt einen notgeilen, depressiven Zen-Meister, Motorradgangs und eine Xanthippe. Dass das nicht nur unheimlich kindisch ist, sondern auch unglaublich herzerwärmend, lässt sich gut am Nebencharakter Yuji darstellen. Yuji, der von allen nur Preisschild-Yuji genannt wird, trägt grundsätzlich nur heruntergesetzte Klamotten. Egal, in welcher Situation er sich gerade befindet, irgendwo flattert immer ein durchgestrichenes Preisschild an ihm herum; je mehr, desto besser. In einem der vielen Wendepunkte der Story liegt Yu zerstört am Boden, seine drei Freunde finden ihn auf der Straße; unter ihnen ist Yuji, der seine Jacke auszieht, über ihn legt und sagt: “Ich gebe dir 50% Nachlass auf deine Traurigkeit.” Das wirkt so ehrlich und abstrus, dass einem leicht Tränen in die Augen steigen.

Kurz, bevor das Wunder geschieht, wechselt der Film seine PerspeLove Exposure (Filmstill 2 © Rapid Eye Movies) ktive und erzählt in schnellen, rhythmischen Schnitten die Geschichten von Yoko und Aya, zwei jungen Frauen, die von ihren Vätern misshandelt wurden und sehr eigenwillige, überaus lässige Arten der Handlungsmacht wiedergewinnen. War noch im ersten Teil der Boléro bestimmendes musikalisches Motiv, sind das in der folgenden Stunde Songs von Yura Yura Teikoku; bis sich Aya in Yu verliebt, Yu sich in Yoko, Yoko in Sasori, die es eigentlich gar Love Exposure (Filmstill 3 © Rapid Eye Movies)nicht gibt und das Wunder geschieht. Bis im letzten Viertel alle Motive zusammenlaufen, kommt im dritten Teil Beethovens 7. Sinfonie und das Hohelied der Liebe aus den Korinther-Briefen ins Spiel. Es ist auch der Katholizismus, der sich durch den Film zieht und unter dem Protagonisten vor allem leiden; zumindest, so lange sie Erektion und Liebe als Sünde betrachten.

Die klaren stilistischen Trennungen und die logisch eingesetzte Musik schaffen das Unmögliche: Der Film zerfasert nicht. Man könnte jetzt aufzählen, was der Film sonst noch bietet. Wer sich allerdings bis hierhin noch nicht von der Menge und Kuriosität der Inhalte hat abschrecken lassen, der sollte sich unbedingt die gewohnt liebevolle und (leider auch gewohnt) mit Extras ein wenig geizende BluRay von Rapid Eye Movies kaufen, sich mit Sake eindecken und eine lange (Film-)Nacht mit Freunden und Freundinnen planen.

Love Exposure (Filmstill 1 © Rapid Eye Movies)Lässt man sich darauf ein, sieht man ein Meisterwerk vor sich, dass in seinem coming-of-age-Gestus so intim bedeutsam wie The Virgin Suicides oder Donnie Darko werden kann; technisch sind Einflüsse Takeshi Kitanos, in narrativer Hinsicht vielleicht auch Hayao Miyazakis, das, was den Film zusammenhält und immer wieder Unmengen witziger, liebevoller und irritierender Details hervorbringt. Obwohl alles nach Wahnwitz riecht, ist alles an seinem Platz – und das macht in emotionaler, satirischer und (film-)poetologischer Hinsicht einfach nur großartigen Spaß.

 

Cover und Filmstills © Rapid Eye Movies

Wertung: 14/15 dpt

  • Titel: Love Exposure
  • Originaltitel: ai no mukadashi
  • Produktionsland und -jahr: Japan, 1008
  • Genre:
    Arthaus
    Romanze
    Comedy
    Doku Soap
    Action
    Drama
    Essay
    Oper
  • Erschienen: 21.08.2015 (BluRay)
  • Label: Rapid Eye Movies
  • Spielzeit:
    236 Minuten
  • Darsteller:
    Takahiro Nishijima
    Hikari Mitsushima
    Sakura Ando
  • Regie: Sion Sono
  • Drehbuch: Sion Sono
  • Kamera: Sohei Tanikawa
  • Schnitt: Junichi Ito
  • Musik: Tomohide Harada
  • Extras:
    Entfallene Szenen
    Trailer
    Booklet
    Dokumentation
  • Technische Details (Blu-Ray)
    Video:
    1,85:1 (1080/24p)
    Sprachen/Ton
    Jp (DTS HD Master Audio)
    Untertitel:
    D
  • FSK: 16
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite (bitte mit Link hinterlegen)
    Erwerbsmöglichkeiten
    (weitere Infos, z.B. Seite zum Film/zur Serie, falls nötig, sonst entf.)

 


  1. Hier und im Folgenden wird, anders als im Japanischen, der Vorname zuerst genannt, dann der Nachname. []
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