Irmgard Keun – Kind aller Länder (Buch)


Irmgard Keun - Kind aller Länder (Cover © AKG Berlin/THE FRANCIS FIRTH COLLECTION)Bücher über die Zwischenkriegszeit werden immer noch viele geschrieben. “Kind aller Länder” ist da anders. Irmgard Keun, die damals eine bedeutende Schriftstellerin und schon früh den Nazis ein Dorn im Auge war, hat es in der Zwischenkriegszeit bereits im Exil geschrieben, und so erschien es erstmals 1938 in Amsterdam bei Querido, einem Exilverlag. Doch auch heute hat das schmale Büchlein nichts von seinem melancholischen Charme und seiner politischen Aktualität verloren.

Dabei handelt es sich auf den ersten Blick um eine unspektakuläre Geschichte. Die zehnjährige Ich-Erzählerin Kully berichtet frisch von der Leber weg von ihrem Alltag als Tochter eines Ehepaars im Exil. Der Vater, ein Schriftsteller und Journalist, ist ein verschwendungssüchtiger Alkoholiker. Er bringt trotz finanzieller Schwierigkeiten seine Familie immer nur in den besten Hotels unter und muss sie dann dort zurücklassen, um andernorts Geldgeber oder Aufträge zu finden, um sie wieder «auslösen» zu können. Kully betrachtet diesen immer wiederkehrenden Ablauf abgeklärt und schicksalsergeben. Sie kennt es nicht anders. Solange ihre Mutter, ihr Puppenhaus und ihre Schildkröte dabei sind, lässt sich alles ertragen, findet sie. Auch, dass die Hotelangestellten sie immer weniger freundlich behandeln, je länger die Bezahlung der Rechnung auf sich warten lässt. Nur wenn der Vater zu lange braucht, um mit Geld zu Frau und Kind zurückzukehren, wird es selbst ihr manchmal unangenehm. So geschieht es immer wieder in Ostende, Brüssel, Paris, Amsterdam, Nizza, Lemberg, Prag … ein Ende der Irrfahrt scheint nicht abzusehen, denn Sesshaftigkeit liegt nicht in der Natur des Familienoberhaupts. In einer besonderen Kraftanstrengung schaffen Vater und Tochter sogar den Sprung über den großen Teich, aber auch dort setzt sich das bewährte Muster fort.

Kullys Mutter leidet wesentlich mehr darunter, ständig als Pfand zurückzubleiben, insbesondere als ihr Mann längere Zeit nicht aus Polen zurückkehrt, weil er sich nicht einmal die eigene Rückreise leisten kann. Und doch kommt sie nach einem Urlaub in Italien mit ihrer Mutter zu ihm zurück. Nur einmal gelingt es ihr, ihn zu überreden, statt eines Hotelzimmers eine kleine Wohnung zu mieten, doch kaum hat sie diese ein wenig wohnlich eingerichtet, wird ihr Mann wieder rastlos und will weiterziehen. Auch dass er sie nur sehr ungern für ihn Texte tippen lässt, weil es ihn in seiner Ehre kränkt, wenn seine Frau arbeitet, ist ihr mit Hinsicht auf die finanzielle Situation sehr unangenehm. Nur zu Bettelgesprächen schickt er sie manchmal aus, bei Verhandlungspartnern, bei denen nur mit Druck auf die Tränendrüse Geld zu erwarten ist. Außerdem unterrichtet sie Kully, die wegen der ständigen Wanderschaft keine Schule besuchen kann.

Es ist ein Risiko, eine so junge Ich-Erzählerin zu wählen. Schließlich muss sich die Autorin in der Wortwahl, Satzbau und Ausführlichkeit stark einschränken und einen großen Teil der Botschaft zwischen den Zeilen zu transportieren wissen. Doch Irmgard Keun gelingt es, eine eigene Stimme für ihre junge Erzählerin zu finden, die schlicht, glaubwürdig und dabei doch bildhaft ist. In den vielen Stunden des Leerlaufs an Kneipentischen, auf der Straße und in Hotelzimmern lässt Keun sie die Erwachsenen und die Welt um sie herum beobachten. Kully schildert oft treffend und dabei wertungsfrei, weil unvoreingenommen, Gesehenes und Gehörtes, das für den erwachsenen Leser eine ganz andere Bedeutung hat. Auch ihre Interpretation von Dingen, die die Erwachsenen ihr nicht sofort erklären, ist manchmal eine überraschend andere. Kully ist ganz pragmatisch, geht offen auf Neues zu und lernt spielend den Grundwortschatz der einen oder anderen Sprache, um sich mit Kindern oder Hotel- und Restaurantpersonal verständigen zu können. Dieses Talent hilft ihr auch, sich schnell an jedem neuen Aufenthaltsort einzuleben.

Nun könnte die Erzählung einer solchen Odyssee mit dem immer wiederkehrenden Muster von zu teurem Hotel, zurückgelassener Frau und Kind, Wiederkehr des Vaters mit Geld und Weiterreise schnell zum einen langweilig, zum anderen sehr deprimierend werden. Doch gelingt es der Autorin durch den kindlichen Blickwinkel und die ausgefallenen, phantasiereichen Alltagsbetrachtungen der Erzählerin, diese menschliche Tragödie in einen Text zu verwandeln, der eine ganz eigene Schönheit hat. Wenn Kully im Verkehrspolizisten einen Dompteur entdeckt, der die Autos, die ja viel gefährlich seien als Löwen, bändigt, und dieser zu ihr an den Straßenrand kommt, um mit ihr zu schimpfen, sie ihn aber nur mit großen Kulleraugen ansieht und ihn dadurch ihrerseits bändigt, dann ist das einfach nur rührend zu lesen, ganz ohne kitschig zu sein.

Zudem sind Kullys Beobachtungen völlig zeitlos, um nicht zu sagen in letzter Zeit sogar wieder brandaktuell wie beispielsweise die Erkenntnis, dass ein Pass „ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt“ sei und der Schluss daraus: „Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben.“ Doch was sagt schon ein Pass darüber aus, wo man sich zu Hause fühlt? Für Kully jedenfalls ist Heimat dort, wo ihre Eltern sind, ganz gleich, an welchem Ort sie sich befindet.

  • Autor: Irmgard Keun
  • Titel: Kind aller Länder
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erschienen: 2016 (erstmals 1938)
  • Einband: Gebunden
  • Seiten: 224
  • ISBN:  978-3-462-04897-1
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 12/15 dpt

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