Thomas Glavinic – Der Jonas-Komplex (Buch)


Thomas Glavinic - Der Jonas-Komplex (Cover © S. Fischer)Wie schreibt man über Thomas Glavinics neusten Roman, ‘Der Jonas-Komplex’, ohne das Leseerlebnis für andere kaputtzumachen, wenn man nicht über zeilenfüllendes Interviewmaterial verfügt oder über den autobiographischen Gehalt des Buches spekulieren möchte? Schließlich besteht der Reiz des Buches zu einem großen Teil aus dem Puzzeln im Kopf. Wer tut was wo mit wem warum und wie hängt eigentlich das Ganze zusammen? Deswegen sei vorab empfohlen: Wer sowieso vorhat, diesen Roman zu lesen, es aber bisher wegen des schieren Umfangs von knapp 750 Seiten vor sich hergeschoben hat, der lese unbedingt das Buch, diesen Artikel aber lieber nicht. Wer unschlüssig ist, ob er den Roman lesen soll, dem sei er hiermit allerwärmstens ans Herz gelegt, denn Thomas Glavinics Bücher zu lesen lohnt sich sowieso immer. Dieser Artikel ist also genau genommen nur für Leute, die bisher nicht vorhatten, das Buch zu lesen. Das muss es auch mal geben.

Aber fangen wir doch einfach am Anfang an. Der Roman besteht aus drei Handlungssträngen, die alle an einem ersten Januar beginnen. Ein Wiener Schriftsteller wird neben einer Frau wach, von der er nicht weiß, wie sie in sein Bett gekommen ist; in der Weststeiermark wird ein Junge dreizehn Jahre alt und verbringt diesen Tag völlig ungefeiert; in Tokio erfährt Jonas, dass seine Freundin Marie unbedingt mit ihm eine Expedition an den Südpol machen möchte. Diese drei Handlungsstränge, mal mehr, mal weniger verschachtelt, ziehen sich durch das Buch, kommen aber scheinbar nie zusammen.

Der Leser folgt dem Schriftsteller, Lebemann am Drogenabgrund, der von seiner Exfrau gemanagt wird, den gemeinsamen Sohn nur selten sieht und seine Freizeit mit Drogen, Sex und Seriengucken verbringt, bei dessen ständigem Ringen gegen die Sucht vor der Kulisse der Geschehnisse des Jahres 2015; er erhält Einblicke in den trostlosen Alltag des Dreizehnjährigen, der die eigene Vernachlässigung im Schachspiel zu vergessen versucht, und begleitet den Milliardär Jonas, Hauptfigur aus Glavinics Roman ‘Das größere Wunder’, der sich nicht entschließen kann, ob er eine ungeführte Südpolexpedition nun ein willkommenes Abenteuer oder eine völlige Wahnsinnstat mit vorprogrammiertem schlechten Ausgang findet. Spätestens auf Seite achtzig überfällt den Leser kurz Heimweh nach früheren, geradlinigen Glavinic-Büchern, die zwar alle einen Twist enthalten, aber im Großen und Ganzen überschaubar sind und die man auch mal ein, zwei Tage zur Seite legen kann, ohne den Faden zu verlieren.

Beim Jonas-Komplex verhält sich das anders. Es werden so viele Figuren eingeführt, dass der Leser zumindest am Anfang der Versuchung widerstehen muss, sich Notizen zu machen. Schließlich weiß man nicht, wer für die Handlung von Bedeutung sein wird. Aber jede dieser Figuren ist liebevoll mit Eigenheiten versehen, so dass man sie bald alle kennt und bei den meisten auf ein Wiedersehen hofft. Erstaunlich blass und ungreifbar bleibt nur das Kind des Protagonisten, obgleich es seine wichtigste Bezugsperson und sein Grund zu leben ist.

Mehr sei zur Handlung nicht gesagt. Andere Rezensenten haben im zweiten Satz ihrer Rezension sofort eine Deutung mitgeschickt. Das ist bedauerlich, denn dann kann der Roman im Kopf des Lesers nicht mehr auf dieselbe Weise organisch wachsen und seine Handlungswurzeln verzweigen. Auch die Frage, inwiefern das Erzählte dem Leben des Autors entnommen ist, braucht man nicht beantworten zu wollen, selbst wenn es bei einem Protagonisten, der wie Glavinic Wiener Schriftsteller ist und mit namentlich und charakterlich Freunden des Autors eng verwandte Figuren umgeht, naheliegt. Um diesen großartigen Roman genießen zu können, genügt es völlig, sich in den drei Handlungsströmen treiben zu lassen.

Cover © S. Fischer Verlag

Wertung: 14/15 dpt

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