Don DeLillo – Null K (Buch)


Don DeLillo - Null K (Cover © Kiepenheuer & Witsch)»Stirb ‘ne Weile, und dann lebe ewig.« 1 – Dieses den Lebenszyklus umkehrende Credo liegt dem dystopisch anmutenden Projekt zugrunde, das von Ross Lockhart, dem Vater des Protagonisten und Erzählers von Don DeLillos jüngstem Roman „Null K“, Jeffrey Lockhart, unterstützt wird. Der Name, den die Anlage trägt, in welcher das von Reichen für Reiche geschaffene Projekt realisiert wird, erinnert dabei ebenso sehr an eine Sekte wie die Glaubenssentenz selbst: „die Konvergenz“. Die Konvergenz ist eine in der kasachischen Wüste angesiedelte, unterirdische Anlage von übermächtiger und gewaltvoller Atmosphäre. In ihrer inneren Beschaffenheit ist sie von Türen, die nirgendwo hinführen, scheinbar endlosen, labyrinthartigen Fluren, unendlicher Stille und Leere sowie Bildschirmen, die Katastrophen des Weltgeschehens zeigen, geprägt. Ein kafkaeskes Kunstwerk, in welchem eine auf Glauben basierte Technologie den reichsten der Reichen durch die Einfrierung mit flüssigem Stickstoff und kryonische Konservierung die Möglichkeit auf unendliches Leben, frei von Alterung und Krankheit, verspricht. Ein Fundament des Glaubens, das ebenfalls nicht umhinkann, an das Fundament einer Sektengemeinschaft zu erinnern.

Das Leben in der existierenden Welt zeitweilig beenden, in der Gewissheit, in einer optimierten Welt als optimiertes Lebewesen, als cybermenschliche Gestalt, zu erwachen – eine Vision, die neben dem Science-Fiction-Charakter des neuen DeLillo Romans auch deutlich kulturkritische Ansichten offenlegt. Fast parodistisch führt DeLillo die Technikversessenheit des Menschen vor. Implizit determiniert er den Wunsch des Menschen, seine Sterblichkeit und damit seine Menschlichkeit zu überwinden als Anmaßung. In lose verstreuten existenzphilosophischen Versatzstücken, die DeLillos Figuren durch den Kopf gehen und die sie untereinander austauschen, ohne sie erschöpfend auszuführen, deuten sich derartige Überlegungen an, säen den Ansatz, den der Leser in Eigenarbeit zu Ende denken darf. Die Sterblichkeit des Menschen, die nach Ansicht der Konvergenz ein überwindbares Symptom des Menschseins ist, steht unweigerlich im Zentrum all dieser Überlegungen. Welchen Wert hat Zeit, hat Erinnerung, wenn der Mensch unsterblich ist? »Ist der Tod nicht ein Segen? Bestimmt er nicht […] den Wert unseres Lebens?« 2 Was macht das Leben lebenswert? Hier rückt das zentrale Movens von Ross in den Fokus, sich selbst dem Prozess des Kälteschlafs zu unterziehen. Ohne seine zweite Frau Artis, die sich sterbenskrank in die Konvergenz begibt, kann sich dieser sein eigenes Leben nicht länger vorstellen. Er folgt ihr in den Kälteschlaf – seinen Sohn Jeffrey dabei ein zweites Mal alleine zurücklassend. Eine Tatsache, die Jeffrey dazu veranlasst, sich ein Schlüsselereignis der gemeinsamen Vergangenheit, in welcher sein Vater ihn das erste Mal verließ, ihn mit seiner leiblichen Mutter zurückließ, immer wieder zu vergegenwärtigen:

„Nie habe ich mich menschlicher gefühlt als in dem Moment, da meine Mutter sterbend in ihrem Bett lag. […] Die Welle von Trauer und Verlust ließ mich begreifen, dass ich durch diesen Kummer menschlich wuchs.“ 3

Jeffrey, der, ganz im Gegensatz zu seinem Vater die Überzeugungen der Konvergenz-Anhänger nicht teilt, erkennt die Bedeutung seines Daseins nicht schlicht in der eigenen Unvollkommenheit, sondern in seiner Verletzlichkeit, in der Fähigkeit zu erinnern und Trauer zu empfinden. Fähigkeiten und Empfindungen, die innerhalb einer zur Unsterblichkeit verdammten Menschheit eingeschränkt werden würden.

‚Wozu überhaupt leben, wenn wir am Ende nicht sterben?‘ 4

Der Tod wird in der konträren Vorführung durch die Konvergenz, einer den Tod überwindenden Alternative, als sinnstiftendes Element festgelegt. Der Unsinn der Transzendenz in eine Welt voll hyperrealer, cyberartiger Existenz als neue Menschheit wird so immer wieder, ohne besonderen Nachdruck und dennoch gerade dadurch umso eindringlicher, ad absurdum geführt.

Jeffrey bewahrt sich die Erinnerung, bewahrt sich damit auch den Groll gegen seinen Vater. Die (unter Umständen) erwartete Annäherung zwischen Vater und Sohn bleibt aus. Vielmehr wächst die Distanz so weit, dass sich Jeffrey nicht einmal von seinem Vater verabschiedet bevor dieser Artis in den Kälteschlaf folgt.

Der Kälteschlaf erscheint als Zustand, der Sterben und Leben gleichzeitig ist. Ein Zustand, der in einem kurzen Abschnitt zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Romans von DeLillo als daseinskritische Phase dargestellt wird. In einem inneren Monolog, der teils in der ersten, teils in der dritten Person spricht, versucht die in Kälteschlaf versetzte Artis ihr Ich zu erfassen. Trotz Kälteschlaf ist sie am Leben. Ist ihr Bewusstsein am Leben als ein von Fragen gequälter Geist. Artis ist dabei, sich zu verlieren. In diesen Bewusstseinsfetzen, welche die im Kälteschlaf erreichte Körper-, Raum- und Zeitlosigkeit als identitätskritische Momente entlarven, ist Artis erste und dritte Person, ist sie existent und nicht existent zugleich. Was übrig bleiben wird scheint nicht mehr als ein Überrest der ursprünglichen Identität zu sein.

Konzentriert sich der erste Teil des Romans auf den ersten Besuch Jeffreys in der Konvergenz, zeigt der zweite Teil mit einem zweijährigen Abstand, wie sich das Leben von Vater und Sohn nach der Einfrierung von Artis weiterentwickelt. Jeffrey hat inzwischen eine Partnerin. Eine Sonderpädagogin, die mit geschädigten Kindern arbeitet. Diese Kinder – ganz so wie der Junge im anrührenden Schluss von DeLillos Roman – stehen in radikalem Kontrast zu dem in der Konvergenz angestrebten, absoluten Menschen. Makelbehaftet, eingeschränkt und emotionsgeleitet sind sie Sinnbild des Menschlichen. Mehrmals wird durch die Figur des Jeffrey verdeutlicht, wie gerade Schwäche und Verletzlichkeit als menschliche Attribute per se betrachtet werden müssen.

Die Glückslaute – Schreie des Erstaunens und der Bewunderung der natürlichen Welt – eines kleinen Jungen am Ende des Romans stehen im restlosen Kontrast zur Konvergenz, zu ihrem Bild von Mensch und zu ihrer neu entwickelten Sprache, die nicht einmal mehr den Gebrauch von Metaphern benötigen will, um das Naturspektakel einer blutenden Sonne, die mit der Erde zu fusionieren scheint, zu beschreiben.

Trotz all der existenzphilosophischen Anspielungen, die DeLillo in „Null K“ 5 verarbeitet, verliert sich sein neuer Roman nicht in ausgedehnten Ausführungen. DeLillo bleibt seinem nüchternen, präzisen und visuellem Schreibstil treu. Die Gegenüberstellung von zwei absolut gegensätzlichen Figuren, die zudem Vater und Sohn sind, verleihen der Thematik eine angenehme Dynamik. Das Ergebnis ist ein spannendes Gedankenexperiment, das mittels eines überspitzten Szenarios relevante Denkanstöße liefert und absolut lesenswert ist.

Cover © Kiepenheuer & Witsch

  • Autor: Don DeLillo
  • Titel: Null K 
  • Originaltitel: Zero K
  • Übersetzer: Frank Heibert
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erschienen: 10/2016
  • Einband: Gebunden mit Schutzumschlag
  • Seiten: 288
  • ISBN: 978-3-462-04945-9
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 13/15 dpt


Verwendete Fußnoten im Text:
  1. DeLillo, Don: Null K. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. 2. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016, S. 118.()
  2. DeLillo, Null K, S. 71.()
  3. DeLillo, Null K, S. 253. ()
  4. DeLillo, Null K, S. 42. ()
  5. Der titelgebende Begriff bezeichnet die Temperatur bei welcher der Kälteschlaf eintritt, eine Temperatureinheit namens absoluter Nullpunkt, der bei minus 273,15 Grad Celsius liegt, den die Einfrierung jedoch nie tatsächlich erreicht.()
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