Sophie Reyer – Die Wilderin (Buch)


Sophie Reyer – Die Wilderin (Buch)

Die Wilderin
© emons:

Es leben die Geister und Untoten

Tirol. 1900. Oben auf dem Wildspitzenschlag steht eine baufällige Alm. Dort lebt Theresa „Theres“ Leitner, über die die Leute im Tal nicht nur Gutes reden. Nicht nur, dass sie die einzige Frau ist, die durch Wilderei versucht, ihre Familie am Leben zu halten, nein, sie soll sogar mit den Saligen in Verbindung stehen. Alpengeister, untote Frauen, die den Hunger bringen. Was soll man auch von einer Frau halten, die sich der Wilderei hingibt? Klar, das machen im Tal verbotenerweise fast alle, da die Armut ebenso groß ist wie der Hunger und der Wille zu überleben. Aber eben halt doch nur die Männer, niemals eine Frau. Was also soll man von so einer halten, die schon immer ein Wildfang war? Soll man sie womöglich für eine Mörderin halten? Wer Tiere tötet und nach den Saligen ruft, wird wohl auch für einen Mord in Frage kommen, zumal neben der Leiche des erschossenen Schumachers Rainer Bierbichl ein Tuch gefunden wurde, dass der Theres gehört hat.

Die Saligen aber, mit denen falsch umzugehen, das ist streng verboten. Denn bei ihnen handelt es sich um Untote, die man leicht verärgern kann. Rauschende Frauen sind sie, die mit ihren Energien die Berge bewohnen und sie durchwandern wie der Wind. Sie kommen als Sturm über die Häuser, wenn einer stirbt, und es gilt, ihnen Opfer darzubringen, damit die Ernte der Erdäpfel gut wird.

Für Revierinspektor Rosenstiel ist der Fall schon gelöst. Emil Müller hat die Theres ja klar beschuldigt, nicht zuletzt wegen dem Tuch. Doch ihrer Verhaftung kann sich Theres mit einem pikanten Trick entziehen. Inspektor Andreas Schmidt soll den Fall klären, doch der ansonsten bequeme und Widersprüche gegen seinen Vorgesetzten scheuende Beamte spürt, dass dieser Fall etwas Besonderes ist. Nicht nur, weil man es bislang nur mit Fällen von Diebstahl und Wilderei zu tun hat, für die Theres sogar schon im Gefängnis saß. Auch das noch. Schmidt spürt, dass die in armen Verhältnissen aufgewachsene Frau unschuldig ist. Und so entwickelt Schmidt tatsächlich etwas wie Leidenschaft, stürzt sich in den Fall und fühlt sich auf eigenwillige Art zu der deutlich älteren Theres hingezogen.

Wenn es ums nackte Überleben geht

In „Die Wilderin“, dem aktuellen Roman der österreichischen Autorin Sophie Reyer, geht es nicht um eine Liebesliaison zwischen den beiden Protagonisten und selbst als Kriminalroman sollte man das Buch eher nicht lesen, denn die Auflösung entpuppt sich als ein „Foul“ der Autorin, ohne hier weiter spoilern zu wollen. Erzählt wird „Die Wilderin“ auf zwei Erzählebenen: Dem Leben der Theres von ihrer Kindheit hin bis zur gegenwärtigen Situation und den Ermittlungen des Inspektors Schmidt. Die zahlreichen, recht kurz gehaltenen Kapitel tragen jeweils die Überschriften „Früher. Theres“ und „Andreas“.

Erzählen Sie mir von Ihrem Leben!“
„Schauen Sie, da ist nicht viel. Die Kühe, das Heu, die Schweine, die Ernte. Hin und wieder ist der Winter harsch. Das ist alles. Dann schieße ich Gämse.“
„Sie geben es zu.“
„Hab ich eine Wahl? Ich schieße sie vom Fenster aus. Ich bin eine gute Wilderin, wenn es darum geht, dass meine Kinder nicht verhungern. Sie verstehen?

„Früher. Theres“: Sie lebt auf der hochgelegenen Alm mit ihren Eltern und der älteren Schwester Anna. Vater Alois ist ihr Held, der alles kann und vor allem die Familie ernährt. Dies ist nicht leicht, denn im Winter verhindern Schneemassen Nahrungsmittel zu finden, Lawinenabgänge drohen und im Sommer herrschen oft lange Dürrezeiten, die nicht nur die Kartoffelernte dahinraffen, sondern auch den Tieren die Nahrung nehmen. So schießen Alois und andere Dorfbewohner unerlaubterweise Tiere in den Ländereien des Grafen Auersperg, wobei die Hirsche und Gämse oft abgemagert sind. Theres wird älter, es folgt die erste Liebe, die erste Trennung, das erste Kind und später die eine, große Liebe mit Josef, aus der acht Kinder hervorgehen werden. Nicht alle überleben, denn der Hunger ist eine durchgehende Komponente in Theres‘ Leben und auch die Diphtherie fordert ihre Opfer. So lässt sich Theres von ihrem Vater das Wildern beibringen, damit sie später ihre Kinder versorgen kann. Besagter Emil, der sie in der Gegenwart belastet, war schon damals ihr gegenüber boshaft. Eine dunkle Vorahnung stellt sich ein.

„Andreas“: Gut genährt, genießt der Beamte ein bequemes Leben. Sein Chef duldet keine Widerworte und so bleibt er meist unscheinbar. Doch Theres hat es ihm angetan, ihr von Armut und zahlreichen Schicksalsschlägen geprägtes Leben berührt ihn. Und so macht er sich auf die Suche nach dem vermeintlichen Mörder. Einzige Anhaltspunkte sind das besagte Tuch und später ausgerechnet die Aussage von Sepp, dem Dorfidioten.

Die Schönheit der Natur, das karge und entbehrungsreiche Leben auf der Alm und die Einfältigkeit der Menschen zu Beginn des neuen Jahrtausends sind einige der Ingredienzien dieses lesenswerten Romans, der atmosphärisch dicht in die damalige Zeit einführt. Man könnte von einem „literarischen Krimi“ sprechen, denn die bildgewaltige Sprache ist großartig. Hier herrschen Armut und die Gewalten der Natur, wer hingegen Action und Serienmörder sucht, ist völlig falsch. Ein guter Schuss Mystery rund um die Saligen nicht zu vergessen.

Die Figur der Theresa Leitner ist Elisabeth Lackner (1845–1921), die einst im Zillertal wilderte, nachempfunden, deren Leben 2015 verfilmt wurde.

  • Autorin: Sophie Reyer
  • Titel: Die Wilderin
  • Verlag: Emons
  • Umfang: 224 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: November 2022
  • ISBN: 978-3-96041-952-5
  • Produktseite


Wertung: 12/15 dpt


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