Olivier Guez – Das Verschwinden des Josef Mengele (Buch)


Das Verschwinden des Josef Mengele
© Aufbau

Vor dem Einmarsch der Roten Armee floh Josef Mengele, der berüchtigte Lagerarzt von Auschwitz, aus Polen in die Wehrmacht und landete in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, wo ihm zwei Umstände das Leben retteten: Ein gefälschter Pass auf den Namen Fritz Hollmann sowie die fehlende, eigentlich für die SS streng vorgeschriebene Blutgruppentätowierung. Mengele verweigerte die Tätowierung bei seinem Eintritt und so glaubten die Amerikaner, dass es sich bei Hollmann tatsächlich um einen einfachen Wehrmachtssoldaten handelte. Auf einem Bauernhof in der Nähe seiner Geburtsstadt Günzburg verbrachte er drei Jahre, bevor er über die „Rattenlinien“ via Dolomiten und Südtirol später Genua erreichte, von wo er nach Argentinien unter dem Namen Helmut Gregor ausreiste.

Am 22. Juni 1949 kam er in Buenos Aires an und tauchte zunächst unter. Aus Angst vor Entdeckung vermied er jüdisch bewohnte Viertel, besuchte keine deutschen Restaurants, sprach in der Öffentlichkeit kein Deutsch und nahm lediglich Kontakt zu ehemaligen, teils hochrangigen Nazis auf. Argentinien, das damals höchstentwickelte Land Lateinamerikas, war ein Eldorado für Kriegsverbrecher; spätestens seit der Machtübernahme von Juan Perón. Dieser arbeitete 1940 in Rom als der von ihm bewunderte Mussolini den Kriegseintritt Italiens erklärte. Hitlers „Mein Kampf“ las Perón in italienischer und spanischer Fassung. Als Präsident beobachtete er den Kalten Krieg zwischen Amerika und Russland, und nahm Nazis nur allzu gerne auf.

Und so betätigt sich Perón, bis der Kalte Krieg aus dem Ruder läuft, als großer Lumpensammler. Er wühlt in den Mülleimern Europas, startet eine gigantische Recyclingaktion: Mit den Abfällen der Geschichte wird er die Geschichte regieren. Perón öffnet sein Land Abertausenden Nazis, Faschisten und Kollaborateuren; Soldaten, Ingenieure, Wissenschaftler, Techniker und Ärzte; Kriegsverbrecher, die eingeladen sind, Argentinien mit Staudämmen, Raketen und Atomkraftwerken auszurüsten und in eine Supermacht zu verwandeln.

Mengele lässt es sich gutgehen, erhält Unterstützung durch seine Familie, die in Günzburg einen Betrieb für Landmaschinen betreibt. Sein Mittelsmann wird Hans Sedlmaier, langjähriger Prokurist des Familienunternehmens. 1949 erhält Mengele eine Aufenthaltsgenehmigung, arbeitet zeitweise als Handwerker und verdient sich mit illegalen Abtreibungen einiges dazu. Die Entwicklung in Deutschland beobachtet er mit seinen neuen Freunden intensiv, der jungen Demokratie geben sie keine Zukunft, Adenauer verachten sie und überhaupt; ihre Rückkehr wird kommen, schließlich sind dem Führer die Deutschen ja ebenso begeistert wie bedingungslos gefolgt. Allerdings bekanntlich in den Untergang. Adenauer verbietet die Sozialistische Reichspartei, die darauf gegründete Deutsche Reichspartei scheitert bei der Bundestagswahl 1953 kläglich.

Informative, weltpolitische Geschichtsstunde über die Nachkriegsjahre

1956 kommt es zu einem einmaligen Heimatbesuch in Günzburg, bei dem Mengele nach einem Verkehrsunfall beinahe entdeckt wird. Zurück in Buenos Aires erteilt ihm das westdeutsche Konsulat einen Pass; wohlgemerkt auf seinen richtigen Namen. Wenig verwunderlich, denn auch in den Behörden der jungen Bundesrepublik sitzen überall altgediente Nazis an wichtigen Schaltstellen. Aber die Zeiten ändern sich. Im November 1956 erlässt Generalstaatsanwalt Fritz Bauer einen Haftbefehl gegen Adolf Eichmann, der als Ricardo Klement ebenfalls in Argentinien lebt und Mengele, „eine Mücke in den Augen Eichmanns“, verachtet.

Er könnte sich die Haare raufen, wie naiv und vermessen war er bloß gewesen! Ein Vollidiot, ein ausgemachter Schwachkopf, er mokiert sich über Eichmann, der sich unter einem Decknamen versteckt, während er unter seinem richtigen Namen im Telefonbuch steht! Seine Entlarvung ist ein Kinderspiel!

Im August 1958 stellt der Journalist Ernst Schnabel (Autor des Buches „Anne Frank. Spur eines Kindes“; erschienen 1958) eine Anzeige gegen Mengele und der deutschen Öffentlichkeit werden die grausamen Details der Massenvernichtung in den Konzentrationslagern zunehmend bewusst. Selbst die Nazischergen in Argentinien wollen das Ausmaß der Kriegsverbrechen nicht wahrhaben. Sechs Millionen ermordete Juden, so viele, das kann nicht sein. Eichmann, der Organisator des Holocaust, soll aufklären. Er muss es doch wissen. Und er weiß es. Zum Entsetzen von Mengele und Konsorten gibt er nicht nur die Massenvernichtung zu, sondern bedauert vielmehr, dass etliche Juden entkommen konnten. Nach seiner Entführung aus Argentinien –  ein Zusammenspiel von Fritz Bauer und dem israelischen Geheimdienst Mossad -, wird Mengele zum meistgesuchten Kriegsverbrecher weltweit. Es beginnt ein langjähriges Leben auf der Flucht in ständiger Angst vor Entdeckung. Eine Flucht, die erst mit seinem Tod am 7. Februar 1979 endet.

Olivier Guez (schrieb das Drehbuch zu „Der Staat gegen Fritz Bauer“) liefert in seinem schlanken Buch einen beeindruckenden Überblick über das Leben eines der größten deutschen Kriegsverbrechers nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die begangenen Verbrechen werden auf intensive Weise verarbeitet, wobei anlässlich der Thematik zu Lektürebeginn klar ist, dass diese nicht immer einfach zu lesen sein wird. Bemerkenswert sind die Querverbindungen beziehungsweise die Einordnung der weltpolitischen Lage, die auf das Leben von Mengele mehrfach entscheidend Einfluss nimmt. Erst schützt ihn Juan Perón, später der paraguayische Diktator Alfredo Stroessner. Mit der Entführung Eichmanns im Mai 1960 hat sich der israelische Geheimdienst international indes keinen Gefallen getan, erfolgte hierdurch ein unmittelbarer Eingriff in die Souveränität eines anderen Staates. Dann die folgende Anspannung mit Ägypten, gefolgt vom Sechstagekrieg. Mengele gerät aus dem Blickfeld, Israel hat andere Probleme. Erst später wird die Jagd auf ihn wiedereröffnet, an der sich auch der bekannte Nazijäger Simon Wiesenthal vor allem medienwirksam – überwiegend mit spekulativen Falschinformationen – beteiligt. Schon dessen Rolle im Fall Eichmann war eher marginal; trotz seines reißerischen Buchtitels „Ich jagte Eichmann“.

Die Persönlichkeit Mengeles wird auch in seinem langjährigen Exil auf einer abgelegenen Farm in Paraguay deutlich, wo er mit seiner aufgezwungenen „Gastgeberfamilie“ im Dauerstreit liegt, denn von einfachen Bauern lässt sich der mit zwei Doktortiteln gekürte Mengele nichts sagen. Immer wieder retten ihn hohe Geldsummen der Familie vor dem Rauswurf und somit der Enttarnung. Dem Dritten Reich wird der Unbelehrbare nie abschwören, seine menschenverachtende Einstellung gegenüber Juden und allen anderen Nichtariern zeitlebens behalten, seine unfassbaren Menschenversuche vor allem mit Zwillingen und Personen mit Wachstumsstörungen als Wissenschaftler verteidigen und seine Kriegsverbrechen nie als solche eingestehen.  

Wer sich für das Dritte Reich, die Kriegsverbrechen im Allgemeinen und den Holocaust im Besonderen, das Leben ranghoher Nazis nach Kriegsende sowie die weltpolitische Entwicklung nach 1945 interessiert, findet hier eine kurzweilige, mitunter erschaudernde Lektüre.

  • Autor: Olivier Guez
  • Titel: Das Verschwinden des Josef Mengele
  • Originaltitel: La disparition de Josef Mengele. Aus dem Französischen von Nicola Denis
  • Verlag: Aufbau
  • Umfang: 224 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Februar 2020
  • ISBN: 978-3-7466-3667-2
  • Produktseite


Wertung: 13/15 dpt


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