Michael Zeller – „Wendisches Sommergewitter – Künstlernovelle“ (Buch)


„Wendisches Sommergewitter – Künstlernovelle“ ist die neue Erzählung von Michael Zeller. So lautet es im Klappentext. Aber eigentlich ist das so gar nicht richtig. Denn eine klassische Erzählung ist das, was Zeller uns auf gut 100 Seiten aufbereitet nicht. Vielmehr erinnert das Erzählen der fiktiven Hauptfigur, dem Schriftsteller Carlo Andrich, hinter dem man das Alter Ego Zellers vermutet, eher an einen Tagebuchbericht.

Der Schriftsteller Andrich ist für einige Monate ins Wendland gezogen. Er folgt dem Stipendium einer nicht näher benannten Ausschreibung, die ihn auf den Künstlerhof im Dorf Schreyahn unterkommen lässt. Andrich soll – wie üblich bei solchen Arrangements – die ländliche Abgeschiedenheit nutzen, um seinen literarischen Projekten nachzugehen, und im Gegenzug die regionalen Gastgeber durch seine schriftstellerische Anwesenheit begleiten.

Andrich beobachtet also Land und Leute und fasst das Gesehene in zahlreichen Einzelberichten zusammen. Zeitlich verorten lässt sich sein Aufenthalt ins Jahr 1995, in dem der erste Castor-Transport durch Deutschland rollt. So wird der Schriftsteller zum Zeitzeugen mehr oder weniger historisch gewichtiger Ereignisse. Er nimmt an einer Dorfversammlung teil, verfolgt den Lauf der Jahreszeiten, sieht bei den Vorbereitungen zu einem „Unser Dorf soll schöner werden“-Wettbewerb zu, lernt Leute kennen, führt viele Gespräche, blickt in zahlreiche Biografien und erfährt dabei einiges über die Geschichte des Wendlands.

Doch egal, was Andrich beschreibt und erlebt, immer bleibt er seiner Zurückhaltung treu. Andrich ist und bleibt ein Gast, der seine Distanz zu den Ereignissen und den Menschen nie völlig ablegt. Seine Beschreibungen sind präzise, und nur durch gelegentlich leichte Überzeichnung ins Karikaturistische verrät er – falls vorhanden – seine kritische Haltung.

Ohne Frage steht die Atommüll-Diskussion im Zentrum der Novelle. Noch vor dem „Tag X“ begegnet Andrich den Protesten und steht am Ende sogar Seite an Seite neben den Widerstandsaktivisten der Anti-Atom-Bewegung als der erste Castor-Transport Atommüll zur Endlagerung herankarrt.
Andrichs Aufzeichnungen verraten ebenso viel über ihn selbst wie über die porträtierte Region. Er ist ein Grübler, der die Mitte sucht. Ein gemäßigter Denker, der den Ausgleich favorisiert. Jemand, der staatliche Strukturen nicht in Frage stellt, weil er in ihnen einen Garant für ein friedliches demokratisches Miteinander sieht.

Dabei fällt es ihm tatsächlich nicht immer leicht, seine neutrale Haltung zu bewahren. Er steht auf der Seite der Demonstranten und teilt deren Vorbehalte. Und doch will er sich nicht vereinnahmen lassen. Mit aller Kraft hält er sich jegliche Emotionalität vom Leib, weil er instinktiv dem „stimmungsmäßigen Mitgerissenwerden“ misstraut wie man es in Fußballstadien erlebt. Der historische Stachel sitzt tief und mahnt ihn zur permanent zur Vorsicht.

Ein Wir gibt es nicht. (…) Ich bin allein dabei.“
„Und? Wofür bist du denn?“, frage sie ihn.
„Ich bin dagegen, für mich. Ich bin Zeitzeuge. Ich bin Beobachter. Ja, das Auge Gottes vielleicht …“
„Du großer Gott! So ein guter Mensch bist du?“
„Mit Güte hat das nichts zu tun. Ganz im Gegenteil, fürchte ich. Mit Abstand, mit Entfernung.“
Seite 52

Zellers Novelle gerät zur beklemmend aktuellen Frage nach der Verantwortung der Kunst in der Gesellschaft. Welche Rolle sollen bzw. dürfen Künstler:innen übernehmen? Wo im Spannungsfeld zwischen zivilem Ungehorsam und Demokratie können sie ihre künstlerische Unabhängigkeit bewahren, ohne sich vereinnahmen zu lassen?

 

Obwohl die Erzählung an Ereignissen insgesamt eher arm ist, ist die Lektüre kurzweilig. Dafür sorgt Zellers Sprache, die geschickt zwischen Ironie und Nachdenklichkeit pendelt und fast filmisch präzise zahlreiche Alltagsszenen inszeniert. Auf gut hundert Seiten setzt Zeller der Wendland-Region und ihren Menschen ein kleines, sehr ehrliches Denkmal.

  • Autor: Michael Zeller
  • Titel:  Wendisches Sommergewitter
  • Verlag: Rote Katze Verlag
  • Erschienen: 05/2023
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 110
  • ISBN: 978-3-9824732-6-0
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite
  • Autorenseite
  • Erwerbsmöglichkeiten


Wertung: 11/15 dpt


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