Emily St. John Mandel – Das Meer der endlosen Ruhe (Buch)


Was ist Zeit? Ein Meer der endlosen Ruhe? Dem Phänomen „Zeit“ widmet sich Autorin Emily St. John Mandel in ihrem gleichnamigen Roman, in dem sie ihre Leserschaft durch eine komplex-konstruierte Zeitreisen-Story führt.

Nun verhält es sich mit Zeitreisegeschichten ähnlich wie mit den zahlreichen wissenschaftlichen Theorien zum Thema Zeit: Man begibt man sich automatisch auf dünnes Eis. Denn egal wie man den Begriff „Zeit“ definiert“, irgendwann stösst man unweigerlich auf ein Paradoxon.

So haftet auch diesem Roman das Problem an, vielleicht nicht immer ganz logisch zu sein. Aber das geht okay, denn St. John Mandel möchte ja nicht wissenschaftlich theoretisieren sondern in erster Linie unterhalten und ihre Ideen vermitteln.

Die Autorin beginnt in ihrem Plot mit der Vergangenheit, im Jahr 1912. Edwin, ein britischer Adelspross, wird von seiner Familie nach Kanada strafverschickt, um ihn wegen seiner unbequemen Ansichten über das Britische Empire zu maßregln. Ausführlich schildert St. John Mandel die Verlorenheit ihres Protagonisten im Exil. Eine seltsame, fast mystische Begegnung, beendet das Kapitel jedoch abrupt mit einem offenen Ende.

Weitere Kapitel folgen, in denen sich die Autorin auf der Zeitlinie fortbewegt. Es sind jeweils Sprünge von ca. 200 Jahren. So landet sie zunächst im Jahr 2020, dann im Jahr 2203, und jedes Mal taucht die sie in eine weitere völlig neue Geschichte ein, mit neuem Personal und veränderten Rahmenbedingungen. Diese Erzählweise erinnert unweigerlich an David Mitchells Kultroman „Wolkenatlas“. Auch St.John Mandel streut zunächst nur behutsam kleine Indizien aus, die bei den unabhängig voneinander konstruierten Geschichten einen Zusammenhang andeuten.

Erst nach einem Drittel des Romans, die Autorin landet nach einem vierten Sprung im Jahr 2401, dockt die Story an einer Hauptfigur an, die alle weiteren Erzählebenen zusammenführen wird. Ab diesem Moment erleben die Leser:innen die Handlung aus Sicht des Ich-Erzählers Gaspary. Von diesem Punkt an geht die Reise wieder rückwärts. Denn Gasparys Aufgabe wird es sein, durch Zeitreisen einem seltsamen Phänomen auf die Sprünge zu kommen. Es geht dabei um nicht weniger als die vielleicht existientiellste Frage aller Fragen: Ist unsere Zeit echt? Ist die Welt, in der wir leben echt? Was ist Realität überhaupt?

„Kannst du es mir erklären?“ (…)
„Die Simulationshypothese? Klar. Sie schlug die Augen nicht auf. „Denk daran, wie sich Hologramme und Virtuell Reality sogar noch in den letzten Jahren weiterentwickelt haben. Wir können heute ziemlich überzeugende Simulationen der Wirklichkeit erschaffen, und jetzt stell dir vor, wie diese Simulationen in ein, zwei Jahrhunderten ausssehen könnten. Die Simulationstheorie geht daher von der Möglichkeit aus, dass die gesamte Reallität eine Simulation ist.“
(…)
„Okay, aber wenn wir in einem Computer leben“, sagte ich, „Wessen Coputer ist das dann?“
Seite 123

Trotz der Schwere dieses Themas macht es die Autorin ihren Leser:innen leicht ihr zu folgen. Der Erzählstil ist konventionell und daher gut lesbar. Die jeweiligen Settings unterscheiden sich nur wenig von der erlebten Realität unserer Epoche. Gerade die in der Zukunft spielenden Passagen stattet St. John Mandel nur sehr behutsam mit technischen Details aus, von ein paar Andeutungen auf Raumschiffe, Mondkolonien etc. abgesehen. Trotz Zukunftspektakel liest sich das Buch also kaum wie Science Fiction. Die Menschen leben in der gezeigten Zukunft kaum anders als die Leser:innen im Entstehungsjahr des Romans. Die Autorin schafft dadurch eine große Nähe zur erzählten Realität und ihren Figuren. Immer steht der Mensch bei ihr im Mittelpunkt. Ein großer Pluspunkt des Romans ist eindeutig die Empathie, die die Autorin erzeugt.

Dem selbst heraufbeschworenen Vergleich mit dem Mitchell-Roman „Wolkenatlas“ kann St. John Mandel jedoch sowohl sprachlich als auch inhaltlich nicht standhalten. Mit der inhaltlichen Übersichtlichkeit, mit der sie ihren Plot bis zum Ende durchchoreografiert, geht einiges an erzählerischer Tiefe verloren. So wirkt die Zukunftsbetrachtung stellenweise doch sehr eindimensional. Ein größerer visionärer Mut bei der Darstellung der Zukunftsszenarien, z.B. in Bezug auf die Themenkomplexe Klima, Energie, gesellschaftliche Entwicklung, hätten dem Roman gut gestanden und ihn in ein aktuelles Spannungsfeld rücken können.

Insgesamt bewegt sich die Erzählung sehr an der Oberfläche entlang und konzentriert sich darauf, den gut gebauten Plot sauber abzurunden – was auch definitiv gelingt.

Fazit: Der Autorin ist eine unterhaltsame Story gelungen, die allerdings – entgegen der Erwartungshaltung, die der Klappentext schürt – nicht über den guten Durchschnitt hinausragt. In den USA steht der Roman auf den Bestseller-Listen und wird auch in Deutschland verdientermaßen seine Leserschaft finden. Kurzweilige Lektürestunden sind garantiert.

  • Autorin:  Emily St. John Mandel
  • Titel: Das Meer der endlosen Ruhe
  • Originaltitel: The Sea of Tranquility
  • Übersetzer:  Bernhard Robben
  • Verlag:  Ullstein Hardcover
  • Erschienen: Juli 2023
  • Einband:  Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN:  978-3550202155


Wertung: 11/15 dpt


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