Liv Marie Bahrow – Wellenkinder (Buch)


© Ullstein

Eine Trennung von einer geliebten Person erfolgt in Wellen. Episoden der Beruhigung wechseln sich ab mit Episoden des Aufruhrs. Streit, ein trügerischer Frieden, Enttäuschung, die in immer neuen Worten Ausdruck findet.

Jan durchlebt die Trennung seiner Familie. Als Vater, der seine Frau zu oft vertröstet hat, muss er mitansehen, wie Gesa und sein Sohn Cornelius immer weiter fortgetrieben werden. Als er schließlich einen Anruf erhält, der ihm Aufschluss darüber gibt, was mit seiner spurlos verschwundenen Mutter passiert ist, gerät er in Wogen, die er mit Ausreden nicht mehr besänftigen kann.

In der DDR der 1970er Jahre gibt es keine Wellen. Hier läuft alles ebenmäßig, nach Schema. Störfaktoren werden ausgeschaltet. Wenn Gleichmachen nicht funktioniert hat. Hier bringt Oda ein Kind zur Welt, nachdem sie kurz zuvor wegen Republikflucht verhaftet worden ist.

Im Berlin von 1945 liegt alles im Trockenen. In Staub und Schutt und Asche. Hier gibt es keine Hoffnung für die, die ums Überleben kämpfen müssen. Erst mit dem Ausruf der Deutschen Demokratischen Republik bewässern leise Freudentränen großer Erwartungen ein Berlin, das von allen guten und bösen Geistern verlassen worden war. Hier kann Margit wieder an ein Land glauben, das sich um seine Menschen kümmert.

Drei Ären. Drei Protagonist*innen. Drei Schicksale, die miteinander verwoben sind.

Liv Marie Bahrows „Wellenkinder“ ist die tragische Geschichte einer Familie, die vermutlich niemals hätte zusammenfinden dürfen.

Margits Geschichte wird von ihrer Flucht aus Königsberg bis in die 1990er Jahre begleitet. Sie erfährt Hunger und wie es ist, wenn der verhasste Vater als Kriegsrückkehrer das Leben erschwert. Die Gründung der DDR bedeutet für sie ein Anfang, der sie aus dem Elend befreit, in dem sie sich befindet.

Dem gegenüber steht die junge Oda, die dieselbe DDR als Gefängnis erlebt. Von ihrem Liebhaber angestachelt wagt sie einen Fluchtversuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Infolgedessen erfährt sie eine Ungleichbehandlung, von der niemand möchte, das sie im eigenen Land möglich ist.

Mit Jan schließt sich der Kreis der Schicksalhaften. Er ist das Endergebnis zweier Frauen, die nichts miteinander gemein haben. Er trägt die Konsequenzen eines autoritären Systems, in dem er selbst nicht mehr lebt.

Es ist schwierig, ein Buch vorzustellen, dessen Fäden so stark miteinander verwoben sind wie hier, ohne zu viel des Inhalts zu verraten. Doch bereits die Fäden lohnen sich, um die Lektüre dieses eindringlichen Romans aufzunehmen.

Die Thematik ist schwer. Sie fällt wie eine Last auf die Schultern der Leser*innen. Manche Passagen sind kaum auszuhalten, da sie einen emotionalen und körperlichen Schmerz beschreiben, der unmenschlich ist. Verhaltensweisen werden aufgezeigt, vor denen am liebsten die Augen verschlossen werden. Das bezieht sich auf die Phasen der Vergangenheit ebenso wie auf Jans Gegenwart. 

„He, mein Schatz, hör auf zu weinen. Du ruhst dich ein bisschen aus, dann geht es dir gleich besser.

Ich will nicht wegfahren, wimmerte Cornelius. Und ich will, dass Mama hierbleibt.

Gesa deckte ihn behutsam zu. Das geht nicht.

Warum nicht?

Gesa und er sahen einander an. In diesem Moment wollte er überall sein, nur nicht in dieser schäbigen Behausung, die ihrer allerersten Wohnung zu zweit so ähnlich war…“

Bahrow beschreibt die Last eines Kindes und beschränkt sich in ihrer Beschreibung darauf, obwohl sie den fiktiven Jungen Cornelius als das Wichtigste in Jans Leben benennt. Cornelius nervt. Er nervt sogar bei der Lektüre. Immerzu muss man sein Gequängel und Genörgel aushalten. Jedes Mal mit Kopfschütteln lesen, dass der Junge mal wieder nur mit Pizza, Pommes und Schokolade vollgestopft wird, was er später wieder von sich gibt. Er ist eine Last, wo er nur kann. Und damit hat sich die Autorin etwas gewagt, das mal lange nötig war – das klare Benennen dessen, dass Kinder eben nicht nur toll und großartig sind, sondern Erwachsenen auch das Leben schwermachen können. Durch ihre bloße Existenz. In einer Welt, in der Kinder zum Mittelpunkt aller Familien erkoren werden, wird zu oft verschwiegen, welche Bemühungen es kostet, diese Kinder großzukriegen und sich selbst dabei zurückzunehmen. Damit hat Bahrow gebrochen.

Darüber hinaus gibt es aktuell erste Meinungen, die DDR aus einem alternativen Blickwinkel zu betrachten. Erste Sachbücher beschäftigen sich derzeit damit, das Gute an der DDR herauszuarbeiten, ohne in die übliche Ostalgie zu verfallen. Auch hier positioniert sich Bahrow deutlich gegen diesen Trend. Mit ihrem Aufzeigen vom Umgang mit Gefangenen und vor allem gefangenen Müttern nimmt sie Stellung gegen ein System, das schlichtweg unterdrückt hat. Allerdings versäumt sie es an dieser Stelle, auch die Bundesrepublik Deutschland in die Kritik zu nehmen, die im Gegenzug wie das übliche Schlaraffenland dargestellt, bzw. kaum erwähnt wird.

Der Schreibstil ist einfach. Vor allem ihr Gebrauch von Dialogen rufen Emotionen hervor. Sei es, indem sie nachstellt, wie anstrengend ein Telefonat sein kann, während gleichzeitig Chaos um den Telefonierenden herrscht. Oder wie Ungerechtigkeit manifestiert wird.

Während des Lesens stellen sich etliche Fragen. Vor allem die Haltung einer Figur namens Horst lässt aufhorchen. Wer ist der Mann, der 1945 aus den Armen einer Frau gerettet wurde, die sich in die Fluten stürzte? Gut oder böse?

Die Geschichte wird getragen von einem Haus. Es ist baufällig. Es beherbergt wunderschöne Details, die unter Holzplatten versteckt wurden. Es riecht unangenehm. Es hat einen Garten. Es ist ein Heim. Es ist verhasst. Leider existiert das Haus in dieser Geschichte nur, ohne als stärkere Metapher ausgearbeitet zu werden. Ansätze finden sich im Entfernen von Holzplatten, sodass Schnitzereien zum Vorschein kommen, ebenso wie Geheimnisse aus Jans Familie offenbart werden, doch fällt dieser Aspekt eher ins Nebensächliche.

Fazit

„Wellenkinder“ hat eine deutliche Meinung zu mehreren Themen, obwohl es das vermutlich nicht mal bezweckte. Liv Marie Bahrow hat einen Roman verfasst, der nicht nur Familientragödie ist, sondern auch klar sagt: Seht hin! Das gab es, und das gibt es! Und wir tun so, als ob nicht!

Sie zeigt die Folgen eines Systems auf, dessen Arme bis in unsere Gegenwart reichen und von dem die Menschen auch heute noch betroffen sind. Traumata. Trennungen. Sogar der große Schock derjenigen, die an das Große der DDR geglaubt haben und die nun jeder Glaubensgrundlage beraubt wurden.

Eine spannende Analyse gesellschaftsrelevanter Themen!

Autorin: Liv Marie Bahrow

Titel: Wellenkinder

Verlag: Ullstein Buchverlage GmbH

Umfang: 416 Seiten

Einband: Paperback

Erschienen: 31.08.2023

ISBN: 978-3-548-06869-5

Produktseite

Wertung: 13/15 dpt

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