Tiefgründiger, politischer Krimi mit aktueller Relevanz
Harry Ingram arbeitet als Prozessbevollmächtigter, indem er juristische Dokumente zustellt. Zusätzlich hört er den Polizeifunk ab und ist immer dort, wo sich die unschönen Dinge ereignen. Schießereien, Verkehrsunfälle, häusliche Übergriffe oder Polizeigewalt. Als er Arbeiter im Rennstall des Hollywood Park bei ihrem Alltag fotografiert, gibt es ein unerwartetes Wiedersehen mit Ben Kinslow, der ihm einst in Korea das Leben rettete. Man trifft sich wenig später auf einer Party, wo ihm Kinslow mitteilt, dass er vor etwas Großem stehe.
„Richtig.“
„Hatte einen Onkel da drüben. Er war schon im Zweiten Weltkrieg.“
„Und er hat sich freiwillig noch mal gemeldet?
Einige Jahre haben sich der schwarze Ingram und der weiße Kinslow nicht gesehen, doch die Freude währt nur kurz. Über den Polizeifunk erfährt Ingram von einem Verkehrsunfall am Mulholland Drive, wo ein Wagen die Leitplanke durchbrach, die Böschung hinabstürzte und gegen einen Baum prallte. Kinslow stirbt noch am Unfallort und während Ingram eilig Fotos schießt, versuchen die Cops ihn mit Gewalt an seiner Arbeit zu hindern.
Eine Filmrolle kann Ingram retten und entwickeln und glaubt auf einem Foto zu erkennen, dass der Bremsschlauch manipuliert wurde. Er ist seinem Freund die Aufklärung, ob dieser womöglich ermordet wurde, schuldig, denn die Polizei stellt die Ermittlungen umgehend ein. Ingram hat es schwer, Spuren zu finden, gelangt aber letztlich an eine Aktentasche von Kinslow, die zahlreiche Fotos enthält, auf denen weiße Männer mit spärlich bekleideten Frauen zu sehen sind. Kinslow arbeitet zuletzt für den einflussreichen und unantastbaren Industriellen Winston Hoyt. Sollte Kinslow für diesen die Fotos heimlich gemacht haben, um dessen Gegner erpressen zu können oder wollte Kinslow gar selbst Hoyt erpressen?
In Los Angeles herrscht große Anspannung, denn Martin Luther King Jr. hat einen großen Auftritt angekündigt. Zudem kandidiert Tom Bradley bei den Stadtratswahlen. Kann er der erste schwarze Bürgermeister von L. A. werden? Gemeinsam mit dessen Wahlkampfmanagerin Anita Claire gerät Ingram bald zwischen die Fronten und in die Schusslinie weißer Rassisten.
Intensive Einblicke in das Amerika zu Beginn der 1960er Jahre
Gary Phillips, ein in Amerika hoch angesehener, in Deutschland mangels Übersetzungen bislang nahezu unbekannter Autor, verbindet Krimi und Literatur gekonnt miteinander; eine vollgespickte Geschichtsstunde inklusive. Die Handlung ist an ihrem Protagonisten, dem Fotografen Harry „One-Shot“ Ingram, ausgerichtet, der sich vorwiegend in seinem (schwarzen) Umfeld bewegt. Alles andere ist auch schnell gesundheitsschädlich, wie er aus seiner täglichen Arbeit weiß. Allen politischen Lippenbekenntnissen zum Trotz, ist von einer Aufhebung der Rassentrennung nichts zu spüren. Diese forderte schon vor über zehn Jahren Präsident Truman bei der Armee, doch General MacArthur bezeichnete schwarze Soldaten stets als hoffnungslos minderwertig, weswegen er wegen Gehorsamsverweigerung 1951 gefeuert wurde. Alle Achtung.
Von Rassismus ist es nur ein kurzer Weg zur Bürgerrechtsbewegung, die einen wesentlichen Raum einnimmt. Dazu passend der geplante Besuch des Reverend King. Geschickt platziert Gary Phillips einen Auftrag Ingrams als Prozessbevollmächtigter, um diesen in Kontakt mit der Nation of Islam respektive den Black Muslims zu führen. Von dort wiederum ist es nur ein kurzer Gang zu Malcolm X, der nicht völlig fehlen darf.
Rassismus, Polizeigewalt, Bürgerrechtsbewegung sind zentrale Themen des vorliegenden Romans. Fehlen noch die traumatischen Folgen des Koreakrieges, unter denen Ingram stark leidet, und ein kleines Bündel wohlfeiner Verschwörungstheorien. Chris Harding Thornton („Pickard County“) verweist in seinem Nachwort zu Recht darauf hin, dass bei Weitem nicht alle Verschwörungen bloße Theorien sind, sondern einflussreiche Menschen seit jeher versuchen, mittels Verschwörungen ihre Machtoptionen zu stärken.
„One-Shot Harry“ spielt 1963, ist aber thematisch nach wie vor aktuell, wie die gesellschaftlichen und politischen Geschehnisse in Amerika zuletzt immer wieder gezeigt haben. Allerdings ist es auch ein sehr amerikanischer Roman, denn zahlreiche Namen von Künstlern, Politikern, Zeitungen, Organisationen und Einrichtungen sind hierzulande gänzlich unbekannt. Der Strahl- und Aussagekraft des Romans kann dies jedoch nichts anhaben und wer mag, kann die Lektüre ja als Einstieg in die amerikanische Zeitgeschichte nutzen.
- Autor: Gary Phillips
- Titel: One-Shot Harry
- Originaltitel: One-Shot Harry. Aus dem Amerikanischen von Karen Gerwig. Mit einem Nachwort von Chris Harding Thornton
- Verlag: Polar
- Umfang: 312 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Mai 2024
- ISBN: 978-3-948392-98-7
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Wertung: 12/15 dpt