Martin Becker und Tabea Soergel – Die Schatten von Prag (Buch)

Mit Die Schatten von Prag, erschienen 2024 im Kanon Verlag, präsentieren Martin Becker und Tabea Soergel einen ungewöhnlichen Roman, der ebenso historisch aufgeladen, wie auch ein literarischer Liebesbrief an das Prag des Jahres 1910 ist. Das Autorenduo nimmt die Leser mit in eine von gesellschaftlichem Wandel geprägte Stadt, in der ein Reporter namens Kisch, gleich mehreren Mordfällen nachgeht. Doch der Krimi tritt oft in den Hintergrund zugunsten eines atmosphärischen Stadtporträts, das von einer intensiven Recherche des Autoren-Duos zeugt.

Die Handlung spielt sich in einem Prag ab, das mit einer Vielsprachigkeit und den sozialen Spannungen zwischen den deutschen, tschechischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben wird. Becker und Soergel führen ihre Leserschaft durch die engen Gassen und mondänen Boulevards von Prag und setzen dabei einen starken Fokus auf detaillierte Beschreibungen der Historie der Stadt an der Moldau. Die Autoren greifen auch auf historische Artikel und Schlagzeilen aus der damaligen Zeit zurück, die immer wieder in größeren Blöcken eingeschoben werden und ein Beweis für die akribische Recherche sind, die dem Werk innewohnt und ihm eine authentische und auch dokumentarische Note verleiht.

Und die Moldau schwoll an und zog sich wieder zurück und schwoll wieder an, als sei sie ein langsam atmendes, uraltes Lebewesen. Und unterhalb der Palacky-Brücke zogen Kanalräumer die Leiche einer Frau aus dem Wasser, deren Brillantohrringe verrieten, dass sie den besseren Ständen angehört hatte.S. 106

Der Protagonist Kisch, der sich an den realen Reporter Egon Erwin Kisch anlehnt, der zu der Zeit lebte, ist ein vielschichtiger Charakter. Anders als der historische Kisch, der vor allem als Lokalreporter bekannt war, wird er in Die Schatten von Prag in die Rolle eines Kriminalreporters versetzt. Seine journalistische Vernetzung in der Stadt – von zwielichtigen Informanten bis zu hochrangigen Beamten – wird dabei eingehend beschrieben. Auch frönt dieser Kisch gerne dem ein oder anderem Gläschen in seinem Stammlokal, dem Batignolles, wo er sich die Nächte um die Ohren schlägt, denn auch ein erholsamer Schlaf bleibt ihm irgendwie immer verwehrt. Mit einer Medizinstudentin namens Lenka, die aus Berlin nach Prag zurückgekehrt ist, um sich um ihre Mutter zu kümmern, nimmt er die Ermittlungen auf, nachdem sich ein Mordfall nach dem anderen ereignet. Lenka ist die zweite Figur in Die Schatten von Prag, aus deren Sicht die Handlung sehr ausschweifend beschrieben wird. Als Medizinstudentin bringt sie wissenschaftliche Expertise und ein unerschrockenes Wesen in die Untersuchungen ein. Während Kisch nicht selten zwischen Tatendrang und Orientierungslosigkeit schwankt, lenkt sie ihn fasst mütterlich immer wieder in die Bahn, was sich unter anderem in einer intensiven Pflege nach einer Schlägerei äußert. Auch auf ihre Beziehungen zu Nebenfiguren wie dem Redakteur Brodesser, ihrer Mutter, dem Hausmädchen Jana oder ihrer plötzlich aus Berlin angereisten Freundin Claire wird umfassend eingegangen, sodass die gemeinsamen Ermittlungen mit Kisch gerne einmal in den Hintergrund treten.

Eine Nebenhandlung, die ebenfalls die Gefühlswelt und Sorgen der Bevölkerung Prags widerspiegelt, wird auch durch das Auftauchen des Halley’schen Kometen eröffnet, der 1910 tatsächlich für Aufsehen sorgte. Becker und Soergel schildern, wie die Prager Bevölkerung mit einer Mischung aus Faszination und Panik auf das Himmelsphänomen reagiert. Dieses Detail unterstreicht den historischen Kontext des Romans und spiegelt die gesellschaftlichen Ängste und Hoffnungen der Zeit wider, bleibt jedoch für die Haupthandlung ein Element, das diese wortwörtlich nur streift.

Obwohl Die Schatten von Prag als Krimi angelegt ist, fehlt es der Handlung manchmal an einem klaren roten Faden. Die Mordermittlung, die eigentlich im Zentrum stehen sollte, verliert sich in Nebenschauplätzen und episodenhaften Einschüben. Es entsteht der Eindruck, dass die Kriminalgeschichte weniger als Haupthandlung, denn als Rahmen für eine atmosphärische Erzählung genutzt wird. Historisch interessierte Leser sind hier sicher angetan, gerade wenn auch Persönlichkeiten wie Kafka und Rilke in kurzen Sequenzen ihren Auftritt finden. Krimifans hingegen könnten etwas enttäuscht sein, wenn sie eine straffe, spannungsgeladene Ermittlung erwarten.

So liest sich Die Schatten von Prag weniger als ein typischer Krimi als ein literarisches Porträt einer faszinierenden Stadt zu einer Zeit des Umbruchs. Die Stärken des Romans liegen in der historisch fundierten, lebendigen Beschreibung Prags und der gelungenen Einbindung realer Figuren und Ereignisse. Wer jedoch eine stringente Kriminalgeschichte sucht, könnte die Handlung als zu fragmentiert empfinden. Für Lesende, die sich auf eine atmosphärisch dichte und historische Reise einlassen möchten, bietet das Buch auf jeden Fall eine faszinierende Lektüre.

  • Autor und Autorin: Martin Becker und Tabea Soergel
  • Titel: Die Schatten von Prag
  • Verlag: Kanon Verlag
  • Erschienen: 2024
  • Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
  • Seiten: 260
  • ISBN: 978-3-98568-124-2
  • Produktseite

Wertung: 10/15 dpt

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