Cigdem Akyol – Geliebte Mutter – Canım Annem (Roman)

Das Unglück einer Familie, innitiiert durch partiarchale Strukturen vor dem Hintergrund jüngster Deutscher Geschichte

In ihrem ergreifenden Roman “Geliebte Mutter – Canım Annem” vereint Cigdem Akyol die Darstellung eines Kapitels jüngster deutscher Geschichte mit dem individuellen Schicksal einer Familie. Anfang der 50er Jahre warb die BRD Arbeitskräfte aus dem Ausland an, um der Nachfrage der schnell wachsenden Wirtschaft nach Arbeitskräften gerecht zu werden. Zu den sogenannten Gastarbeitern gehörten ab Anfang der 60er Jahre auch Tausende Türken, ebenso wie das junge Ehepaar Aynur und Alvin, das sich in Herne im Ruhrgebiet niederlässt.

Deren Ehe ist von Beginn an unglücklich, denn Aynur ist von ihrem Bruder gezwungen worden, Alvin zu heiraten.  Nichts verbindet die junge Frau aus der Istanbuler Oberschicht mit ihrem anatolischen Ehemann. Trotzdem versucht das Paar sich in seinem neuen Leben zu etablieren und den Traum von der Rückkehr in die Heimat nicht aufzugeben. Tochter Meryem und Sohn Ada werden geboren. Während Aynur einen Platz in der deutschen Arbeitswelt findet, verliert Alvin seinen Job und driftet in die Spielsucht ab. Finanzielle Probleme bestimmen den Alltag, Gewalt dominiert das Familienleben. Besonders Tochter Meryem hat unter regelmäßigen Mißhandlungen zu leiden.

Mal lässt uns Akyol das Geschehen aus Sicht eines auktorialen Erzählers erleben, mal erhält Meryem die Rolle der Ich-Erzählerin. Ihr Part beginnt als Rückblick während der Beerdigung des Vaters. Gemeinsam mit ihrem Bruder Ada reist sie in die Türkei, um dem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Über die in Deutschland geborene und aufgewachsene Meryem bricht eine Flut überwältigender Emotionen herein. Trauer vermischt sich mit dem Trauma der unglücklichen Kindheit. Sie fühlt sich fremd und verloren angesichts des unvereinbaren Kultur-Clashs. Als eine „Wanderin“ zwischen den Welten, ist Meryem auf der Suche nach eigener Identität, im ständigen Kampf gegen die vereinnahmenden Regeln beider Gesellschaften, die ihr vorschreiben wollen, wie sie als Türkin zu sein habe.

Dieser Mix der Erzählperspektiven verleiht dem Roman eine ungeheure Authentizität und Intensität. Obwohl der Roman keine ausgewiesene Autofiktion ist, wirkt nichts an ihm frei erfunden. Der Text ist persönlich und er wird persönlich, denn bezieht er seine Leser:innen ein, deren Wirklichkeit er ebenso beschreibt.

Akyols Prosa ist nüchtern, die Wortwahl direkt, so bricht die Wucht der inszenierten Bilder mit großer Kraft hervor. Ungeschönt legt die Autorin die Missstände offen, denen die Familie im Allgemeinen und die Figuren im Einzelnen begegnen. Der Roman ist so vieles: ein kluger authentischer Rückblick auf jüngste bundesrepublikanische Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik, ein dramatischer Familienroman um Schuld und Vergebung, eine Abrechnung mit patriarchalen Strukturen und mit Vorurteilen, ein Entlarven falscher Narrative. Und er ist das gelungene Porträt einer Generation mit Migrationsgeschichte, die um ihren Platz in der deutschen Gesellschaft kämpft. Trotz dieser enormen Themenvielfalt wirkt der Roman zu keinem Moment überfrachtet. Akyol verbindet alles zu einem stimmigen Ganzen. Mehr noch, sie legt die Zusammenhänge offen, die zwischen indidivuellen Erlebnissen und gesellschaftlichen Bedingungen liegen. Akyol erzeugt Literatur, die mit dem Realismus einer Dokumentation überzeugt und zugleich mit ihrer sprachlichen Finesse tief berührt. Große Empfehlung!

  • Autorin: Cigdem Akyol
  • Titel: Geliebte Mutter – Canım Annem
  • Verlag: Steidl Verlag
  • Erschienen: Oktober 2024
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 192 Seiten
  • ISBN: 978-3969994023

Wertung: 14/15 dpt

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