Wie weit würden Sie gehen?

Der siebzigjährige Jeremiah Fitzjurds lebt mit seiner bald achtzehnjährigen Enkelin Jo auf einem Schrottplatz in der Kleinstadt Taggard, Arkansas. Jake, der Vater von Jo, sitzt seit vielen Jahren wegen Mordes im Gefängnis, von ihrer Mutter Lacey fehlt jede Spur. Seit Jos Geburt gibt es nur die Beiden und so behütet Jeremiah seine Enkelin mit Argusaugen. Ein Footballspiel steht an, bei dem die Wahl zur Homecoming Queen ansteht. Angeblich ist ausgemacht, dass es Jo werden soll, aber angesichts ihrer Familiengeschichte bestehen berechtigte Zweifel. Jeremiah begleitet Jo und lernt zu seiner Überraschung Colt Dillard kennen, der nicht nur der Star des örtlichen Teams ist, sondern auch als Freund von Jo vorgestellt wird.
Widerwillig gewährt Jeremiah Jo Ausgang bis Mitternacht zum Besuch eines Tanzballs, doch haben die beiden Teenager verständlicherweise andere Pläne. Die erste gemeinsame Nacht läuft jedoch durch ein – sagen wir Missverständnis – aus dem Ruder. Als Jeremiah merkt, dass Jo nicht nach Hause kommt, ahnt er, dass dahinter ein uralter Familienstreit mit den Ledfords steckt, der einst tödlich endete. Vater Bunn, geistig gefangen zwischen Ku-Klux-Klan und Gott, sinnt auf Rache, ebenso wie sein Sohn Evail. Der rechtsradikale Skinhead will Jo durch seinen Cousin Dime Roy Belly entführen lassen und sie dann seinem mexikanischen Geschäftspartner Guillermo aus Juárez anbieten. Frischfleisch gegen Meth, so die Idee.
Evail hatte sich von den Skinheads und ihren selbstgemachten Tätowierpistolen ferngehalten. Die Prozedur war ekelhaft. Als Nadeln verwendeten sie meistens die Federn von Druckbleistiften, als Tinte geschmolzenes Styropor. Und dann waren die Tattoos nicht einmal umsonst. Alles im Knast hatte seinen Preis.
Die Entführung gelingt, doch mit unerwarteter Hilfe gelingt Jo die Flucht hinein in das Hinterland der Südstaaten, kurz Ozark genannt. Die Wildnis bedeutet Gefahr, aber die durch Menschen ist noch viel größer. Es ist sozusagen Jagdzeit. Bunn und Evail suchen Jo und werden ihrerseits von Jeremiah gesucht, den man nicht unterschätzen sollte. Siebzig Jahre alt, aber ein mit Bronze Star dekorierter Scharfschütze aus dem Vietnamkrieg mit nach wie vor voll prall gefülltem Waffenschrank. Hinterwäldler auf Menschenjagd und dunkle Geister der Vergangenheit, die eine eruptive Gewaltspirale auslösen.
Packender Southern Noir mit ausufernder Gewaltspirale
Eli Cranor („Bis aufs Blut“) legt erneut einen packenden Southern Noir vor, in dem er einmal mehr auf den menschlichen Bodensatz der Südstaaten blickt. Geleitet wird der Roman von der Frage, wie weit man gehen würde, wenn zum Beispiel die eigene Enkelin von Neonazis und Drogendealern entführt würde? Oder wenn man erführe, dass sich die Dinge in der Vergangenheit ganz anders ereignet haben? In der Zeit vor Jos Geburt ging auf dem Schrottplatz etwas fürchterlich schief. Evail und sein Bruder Rudnick sollen dort eingebrochen sein. Rudnick wurde erschossen, Jake verhaftet und verurteilt. Doch bald zeigt sich nicht nur dem Leser, dass die Familien Fitzjurls und Ledford viele Geheimnisse mit sich schleppen. Selbst Colt, der scheinbar zufällig zwischen die Fronten gerät, ist nicht der, der er angibt zu sein.
Blut ist dicker als Wasser. Aber nicht für eine Frau wie Lacey. Für die ist das Crystal wichtiger als alles andere.
Manche Entscheidungen trifft man aufgrund der Umstände, unter denen man aufgewachsen ist oder die sich später aus dem eigenen Umfeld, der eigenen Wahrheit, ergeben. Dass dies im vorläufigen Fall zu Chaos und maximaler Gewalt führt, ist schnell klar. Man siehe sich nur die wichtigsten Figuren an. Jeremiah, den Kriegsveteran, hatten wir schon. Er hat in der Vergangenheit Fehler gemacht, einen weiteren soll es nicht geben. Dumm nur, dass er nach fast zwanzig Jahren wieder zum Alkohol greift. Evail, ein Neonazi, der mit einem Mexikaner Geschäfte macht und eigentlich nur mit Meth reich werden will. So wie einst Vater Bunn vor langer Zeit, doch wie mit der Stadt, ging es auch mit ihm stetig bergab.
„Warum bist du ausgerechnet jetzt aufgekreuzt? Was soll die Scheiße?“
„Du klingst wirklich wie meine Tochter.“
In den 1960er Jahren boomte Taggard dank eines Atomkraftwerkes. Dieses wurde jedoch Anfang des neuen Jahrtausends geschlossen, die Arbeitskräfte zogen weiter, die Einwohnerzahl halbierte sich. Schlechtbezahlte Jobs wollten nur noch mexikanische Migranten machen, was Bunn in die Fänge des Ku-Klux-Klan trieb. Seit er weiß, dass ausgerechnet sein Sohn mit den verhassten Ausländern Geschäfte macht, hängt der Haussegen schief. Eli Cranor gibt einen ebenso tiefen wie aufschlussreichen und verstörenden Einblick in die amerikanische Unterschicht, die sich ihrer Herkunft und Stellung durchaus bewusst ist. Dass es einen Aufstieg für sie geben könnte, glauben sie nicht. Also bleibt man beim Altbewährten: Drogen, Waffen und Selbstjustiz.
Sheriff Mona McNabb steht derweil nur als Zuschauerin am Rand. Ihre Waffe hat sie noch nie benutzt, sucht den Ausgleich, den es nicht geben kann. Sie sieht in Jo eine Art kleine Schwester und half ihr bei ihrem Date mit Colt, allerdings hat sie ein Problem mit Jeremiah. Besser gesagt, er mit ihr, was an ihrem Vater Chuck liegt, der einst ebenfalls Sheriff von Taggard und als dieser verantwortlich für Jakes Verhaftung war.
Die Vergangenheit holt einen immer wieder ein, sagt der Volksmund, aber kann man dieser nicht vielleicht irgendwie entkommen? Muss Gewalt immer mit Gewalt beantwortet werden? Und was geschah eigentlich wirklich als Rudnick ums Leben kam? Fragen über Fragen, doch da sprechen bereits die Waffen.
- Autor: Eli Cranor
- Titel: Ozark Dogs
- Originaltitel: Ozark Dogs. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
- Verlag: Atrium
- Umfang: 288 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: April 2025
- ISBN: 978-3-85535-184-8
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Wertung: 12/15 dpt