Hannah Arendt – Die weisen Tiere (Märchenbilderbuch)

Hannah Arendt hat ein Märchen geschrieben? Die berühmte Philosophin und Publizistin, die bekannte Chronistin und messerscharf argumentierende Autorin hat eine Geschichte für Kinder verfasst? Ohne Frage sorgt diese Tatsache für einiges Staunen und ist allein eine Geschichte hinter der Geschichte wert.

Die Schweizer Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Hildegard E. Keller, berichtet im Nachwort wie es zu dieser ungewöhnlichen Publikation kam. Demnach lässt sich vermuten, dass Arendt ihren Märchentext bereits in den frühen 1930er Jahren geschrieben haben könnte. Sie war 1933 nach Paris geflohen, wo sie ein Hilfsprojekt für jüdische Flüchtlingskinder organisierte, bevor sie selbst 1936 nach New York emigrierte. Es ist die einzige Phase ihres Lebens, in der Kinder im Mittelpunkt ihrer Arbeit standen. Entdeckt wurde das Manuskript 1975 nach dem Tod der Autorin durch Jerome Kohn, der den Nachlass sichtete. Keller, die mit Kohn im Austausch stand, reagierte verblüfft und fühlte sich inspiriert, diese Entdeckung literarisch zu verarbeiten. Zu der vorliegenden Ausgabe lieferte sie die Illustrationen.

Mit dieser liebevoll gestalteten Veröffentlichung würdigt der Schweizer Verlag Edition Maulhelden die bisher unbekannte Seite Hannah Arendts, deren Tod sich am 4. Dezember 2025 zum 50sten Mal jährt.

Erzählt wird die Geschichte eines kleinen Mädchens, dem beim Gänsehüten eine Gans entwischt. Die kindliche Heldin nimmt die abenteuerliche Verfolgung auf. Die Erzählung beginnt mit „Es war einmal“ und endet ganz klassisch mit einem „und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Auch sonst entspricht die Erzählung formal ganz dem, was man als Märchen versteht. Das Mädchen trifft verschiedene Fabelwesen, überwindet physikalische Gesetze, lernt phantastische Sprachen und findet am Ende sein Lebensglück.

Doch darüber hinaus hat Arendt einige Elemente eingefügt, die der Geschichte neue Aspekte verleihen. Der Wissensdurst des Mädchens wird von einigen Protagonisten als lästig bezeichnet, man darf die Erwähnung dieser Bewertung, die einer männlichen Hauptfigur so nicht begegnet wäre, durchaus als feministische Kritik lesen. Auch offenbart sich ein recht moderner Blick auf die Entwicklung der Heldin. Das Mädchen gestaltet sein Abenteuer selbstständig, indem es sich das dafür notwendige Wissen aneignet. Und manchmal geht sie dabei auch ganz neue Wege und überwindet die eine oder andere tradionelle Vorgehensweise.

Die Begegnungen mit den verschiedenen Fabelwesen markieren unterschiedliche Themengebiete, die Arendt anschneidet. Die Auseinandersetzung mit traditionellen Werten findet insgesamt jedoch sehr behutsam und respektvoll statt. Nichts erinnert an die unnachgiebige, keinem Konflikt ausweichende Autorin philosophischer Streitschriften.

Die Handlung setzt sich zusammen aus einer Reihe von netten Szenen, denen ein ausgeprägterer Spannungsbogen im Plot nicht geschadet hätte. Inhaltlich weicht dieses Märchen deutlich von klassischen Vorbildern ab. Arendt verpasst ihrem Text eine emanzipatorische Note, indem sie traditionelle Werte, wie sie in Märchen gerne weitergegeben werden, wie Mut, Treue oder Glauben, durch weiblichen Wissensdurst und selbstbestimmtes Handeln ersetzt. Das gute Ende kommt in diesem Kontext eher formell daher, ohne dass es inhaltliche Relevanz gehabt hätte oder für die Charakterisierung der Hauptfigur wichtig gewesen wäre.

Es sind vor allem die phantasievoll verspielten Illustrationen, die die 96-seitige Veröffentlichung tragen und zu einem Blickfang werden lassen. Besonders interessant ist vor allem der Kontrast zu Hannah Arendts sonstigem Werk. Das Märchen überrascht durch seinen zarten, leichten Ton, der dem öffentlichen Bild seiner Autorin eine verletzliche, private Note hinzufügt. Man kann sich gut vorstellen, dass Arendt dieses Märchen nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hatte. Viele der von ihr angeschnittenen Themen wären ganz sicher deutlich pointierter herausgearbeitet worden.

Fazit: Das Kunstmärchen im Bilderbuchformat ist eine liebevolle Hommage an die berühmte Philosophin und vor allem für bibliophile Sammler ein Schmuckstück fürs Regal.

  • Autorin: Hannah Arendt
  • Titel: Die weisen Tiere
  • Illustratorin: Hildegard E. Keller
  • Verlag: Edition Maulhelden
  • Erschienen: März 2025
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 96 Seiten
  • ISBN: 978-3907248164

Wertung: 11/15 dpt

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