„Der Geschmack nach Schwarzer Erde“, preisgekrönter Text der lettischen Bestsellerautorin Inga Gaile, ist mehr literarisches Mosaik als Roman. Drei Generationen umfasst die Erzählung. Das Buch ist dementsprechend in drei große Abschnitte unterteilt, die jeweils einer Frau aus einer dieser Generationen gewidmet ist: „Violette“, „Magdalena“ und „Duks“.

Ausgangspunkt sind die historischen Ereignisse im KZ Ravensbrück, dem einzigen reinen Frauen-Konzentrationslager des Nationalsozialismus. Hier wurden die inhaftierten Frauen als Zwangsprostituierte systematisch vergewaltigt. Dieses Schicksal erleidet auch Violette.
In großen Zeitsprüngen folgt die Autorin dem Lebenslauf ihrer meist weiblichen Figuren durch die Jahre des sowjetischen Lettland und des Stalinistischen Terrors („Magdalena“) bis in die Zeit nach Ende des Kalten Krieges („Duks“).
Die große Geschichte bestimmt die Lebensumstände, trotzdem stellt Gaile sie nicht in den Vordergrund. Sie ist Ursache, aber in gewisser Weise auch austauschbar. Das Wesentliche wird durch die Menschen sichtbar. Das Leben wird als ein Überleben dargestellt. Die Betroffenen erfahren keine Gerechtigkeit. Im Gegenteil, sie werden durch das ihnen Zugefügte noch stärker marginalisiert.
Der Roman porträtiert eine Gesellschaft im Wandel der Zeit, in der Opfer und Täter miteinander weiterleben müssen. Gaile wagt sogar, die Grenzen fließend werden zu lassen, indem sie Schuld und Trauma zu einem großen gemeinsamen Schmerz zusammenwachsen lässt. Verlorenes kann weder zurückgewonnen noch gutgemacht noch kompensiert werden. Geschichte wird nicht als eine Abfolge abstrakter Ereignisse dargestellt, sondern als ein ineinandergreifendes Geflecht aus Opfertum und Täterschaft.
Gaile zeichnet nach, wie über Generationen hinweg Traumata vererbt, Schuldgefühle verdrängt und Toxische Muster weitergegeben werden. Dabei ist Selbstbestimmung etwas, das den Frauen im Laufe der Zeit noch weniger als den Männern zugestanden wurde. Die dargestellten, überwiegend weiblichen Biografien geben ein besonders bedrückendes Bild ab.
Die Autorin macht es ihren Leser:innen nicht leicht. Die Schwierigkeit, das Erlebte darzustellen, das nur schwer Auszusprechende in Worte zu fassen, wird durch ihre Erzählweise gespiegelt.
Ich will eine Geschichte erzählen. Ich will meine Geschichte
erzählen. Nur, wie soll ich das tun?
Seite 7
Das Erzählen gerät zum Akt des Erinnerns und Einordnens. Der Text ist szenisch und multiperspektivisch aufgebaut. Es gibt keine lineare Handlung, die Erzählperspektiven wechseln so oft und teilweise so unvermittelt, dass es große Konzentration erfordert, um das jeweils Gelesene in den korrekten Kontext zu stellen beziehungsweise der richtigen Person zu zuordnen. Auf diese Weise erzeugt Gaile eine gekonnte Mischung aus Nähe und Distanz. So kann das Einzelschicksal durchaus exemplarisch gelesen werden ohne dabei an emotionaler Tiefe zu verlieren.
Das Nachwort von Dr. Paula Oppermann und Bettina Bergmann (letztere hat den Roman vom Lettischen ins Deutsche übertragen) liefert wichtige Informationen und hilft bei der Einordnung des Textes.
Man muss es dem Ultraviolett Verlag als besonderen Verdienst anrechnen, diesen Roman einem deutschen Publikum überhaupt erst zugänglich gemacht zu haben. Ein nicht zu unterschätzendes Wagnis für den unabhängigen Verlag aus Dresden, da Inga Gaile der deutschen Leserschaft eher unbekannt sein dürfte.
Der Ultraviolett Verlag, der es sich zum Ziel gemacht hat, Literatur aus „kleinen Sprachen“ sichtbar zu machen, liefert mit dem Text der lettischen Autorin einen besonders intensiven Blick auf einen Teil jüngerer europäischer Geschichte.
- Autorin: Inga Gaile
- Titel: Der Geschmack von schwarzer Erde
- Originaltitel: Skaistas
- Übersetzerin: Bettina Bergmann
- Verlag: Ultraviolett Verlag
- Erschienen: März 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 236 Seiten
- ISBN: 978-3968870250

Wertung: 12/15 dpt