Ohne den Tod gibt es kein Leben
In dem Roman „Für immer“ friert an einem Tag im Juni das menschliche Leben und ihre Zeit ein. Niemand stirbt mehr, niemand wird krank. Niemand altert und reift und niemand wird geboren. Für die ehemalige Kriegsreporterin Jenny ist dieser Tag ein Segen. Kurz zuvor erlebte sie einen beinahe tödlichen Autounfall und erhielt kurz darauf eine Krebsdiagnose. Ihr blieb nur noch eine kurze Zeit mit ihren Kindern Konrad und Victor und Ehemann Christian. Als das Leben einfriert, ist der Krebs verschwunden. Und Jenny möchte die neu gewonnene Zeit möglichst intensiv mit ihrer Familie nutzen. Doch schon bald reicht ihr die Zeit mit der Familie nicht mehr. Sie nimmt immer mehr Aufträge für Fotos an. Fotos, die dokumentieren, wie die Menschheit mit der Situation umgeht.
Lisa und Jakob erwarten ein Baby. Doch als die Zeit einfriert, wächst das Baby nicht weiter. Trotz begrenzter finanzieller Mittel ziehen sie teure Spezialistinnen zu Rate, doch das Ergebnis bleibt dasselbe: Ihrem ungeborenen Sohn geht es gut, doch er wächst und entwickelt sich nicht mehr. Hebamme Anne wird in eine andere Station versetzt, als das Leben einfriert. Statt Neugeborenen ins Leben zu helfen, pflegt sie nun tödlich Verletzte, die nicht sterben können.
Ellen arbeitet in einem Beerdigungsinstitut und verbringt ihre Freizeit gerne in der Luft. Mit ihren Freunden Philip und Markus betreibt sie Base-Jumping. Doch als das Leben einfriert, verändert sich der einst so starke Zusammenhalt zwischen den Freunden. Philip tritt einer Gruppe bei, die Verschwörungstheorien verbreitet. Und Ellen freundet sich mit einer Kundin an, die ihr den Auftrag gibt, die eigene Beerdigung zu planen.
Otto und Margo sind gerade aus ihrem Haus in eine altersgerechte Wohnanlage gezogen. Margo litt unter Kniebeschwerden beim Treppensteigen, nun hat sie einen Lift. Otto vermisst seinen Garten und arbeitet eifrig daran, den neuen Balkon zu bepflanzen. Als die Zeit einfriert und Margos Altersbeschwerden verschwunden sind, will sie mehr vom Leben und der geschenkten Zeit als Wohnung und Garten. Sie möchte mit Freundinnen feiern und reisen. Und verlässt ihren Ehemann.
(K)ein Corona-Roman
Die norwegische Autorin Maja Lunde wurde bekannt mit ihren Büchern aus dem „Klimaquartett“. Die deutschsprachigen Bände des Quartetts tragen die Titel „Die Geschichte der Bienen“, „Die Geschichte des Wassers“, „Die letzten ihrer Art“ und „Der Traum von einem Baum“. Der Auftaktband galt 2017 als das meistverkaufte Buch Deutschlands und wurde mit dem Norwegischen Buchhändlerpreis ausgezeichnet. Die norwegische Akademie für Literatur und Meinungsfreiheit verlieh Maja Lunde 2020 für ihr Gesamtwerk den Bjørnson Preis.
Einen Corona-Roman hat Maja Lunde mit „Für immer“ nicht geschrieben. Denn die Idee zum Roman kam ihr im Jahr 2015, also bereits einige Jahre vor der Pandemie. Über Corona schrieb die norwegische Autorin 2020 eine Art Tagebuch mit dem Titel „Als die Welt stehenblieb“. Er nimmt Lesende mit in ihren persönlichen Alltag dieser Zeit als Hausfrau, Mutter und Schriftstellerin. Gleichwohl die Geschichte in „Für immer“ weder eine Virusinfektion noch dessen soziale Auswirkungen thematisiert, gibt es einen roten Faden, der die Corona-Zeit und die Fiktion über den Stillstand von Leben und Sterben verbindet: Menschen wie Du und ich finden sich in einer veränderten Realität wieder, die die Gesellschaft auseinanderzureißen droht.
Verzweiflungsmaßnahmen und Verschwörungstheorien
Die Protagonist:innen in „Für immer“ begegnen dem Alltag ohne biologische Entwicklung und Tod ganz unterschiedlich. Jenny und Margo freuen sich darüber, Krankheit und Alter hinter sich zu lassen und intensiver zu leben. Jacob verzweifelt, weil das Baby in Lisas Bauch nicht mehr wächst, Anna verzweifelt ebenfalls, weil ihr Dienst als Hebamme Beruf und Berufung für sie war. Metaphorisch ausgedrückt vergräbt sich Otto selbst zwischen seinen Balkonpflanzen und sucht den unmittelbaren Kontakt zu Mutter Erde. Und Ellen distanziert sich von Philip, der eine Erklärung für den Stillstand sucht und Verschwörungstheorien findet.
Sie alle finden ihren Weg mit der Situation umzugehen: halten am Gewohnten fest, suchen die Nähe zur Natur, holen bisher versäumtes nach und leben Extreme aus. Und einige verlassen an einem bestimmten Punkt den gewählten Weg wieder und schlagen eine andere Richtung ein auf der Suche nach der Ursache und einem Ausweg. Diese Suche entfernt sich immer weiter von dem, was wir als gesunden Menschenverstand bezeichnen. Man bemüht Schriften auf Steinplatten, die Gaia-Hypothese und das Thanatos-Paradigma als Erklärungen und Lösungsstrategien.
Hier finden sich klare Parallelen zur Zeit der Corona-Pandemie, in der ähnliche Verschwörungstheorien aufkamen. Und das obwohl Wissenschaftler:innen forschten und Erklärungen veröffentlichten. Auch der gesellschaftliche Sprengstoff, den Verschwörungstheorien bergen, ist in der fiktiven Geschichte und der Corona-Krise ähnlich brisant. Es werden keine Konfliktlösungsstrategien mehr bemüht, sondern auf Standpunkten beharrt, ohne Andersdenkenden zuzuhören. Immer radikaler spalten und entwickeln sich die Lager, die die eine oder andere Ideologie vertreten. In dem „Für immer“ Szenario liegen diesen Ideologien Theorien zugrunde, die besagen, das die Menschheit sich zu weit von der Natur entfernt hat. Dass sie nicht mehr dazugehört und vom Leben und Sterben ausgeschlossen wurde.
Was vom Stillstand bleibt
Die Geschichte wird aus personaler Sicht von den Protagonist:innen erzählt und Lesende erleben hautnah, was sie fühlen, wie sie sich arrangieren oder verzweifeln. Maja Lundes feinfühliger und zugleich mitreißender Schreibstil lässt uns unmittelbar am Schicksal ihrer Figuren und deren Entwicklung in dieser bizarren Situation teilhaben. Trotz des phantastischen Hintergrunds wirkt die Handlung authentisch, die Atmosphäre dicht und lebensnah.
„Für immer“ von Maja Lunde gehört zum Genre der Speculative Fiction. Der Roman erzählt eine Geschichte, die in unserer Realität spielt und diese mit etwas Unvorstellbarem konfrontiert. Die Geschichte über den Stillstand vom menschlichen Leben und Tod ist eine Art philosophisches Experiment, das das Thema Sterblichkeit in ein anderes Licht taucht. Heraus aus der Tabuzone des Verschweigens und der Ablehnung, hin zu mehr Akzeptanz und Verständnis. Und somit bringt der Roman trotz der dystopischen Grundstimmung einen positiven Ausblick mit, der nachhallt und zu einer veränderten Denkweise anregt. Wer herausfordernde Gedankenspiele und eine poetische Sprache mag, wird an „Für immer“ von Maja Lunde viel Freude haben. Wer hingegen Action und einen stringenten Handlungsablauf erwartet, wird mit dem Roman eher nicht warm.
- Autorin: Maja Lunde
- Titel: Für immer
- Übersetzerin: Ursel Allenstein
- Verlag: btb/Penguin
- Erschienen: 01/2025
- Einband: eBook (epub)
- Seiten: 320
- ISBN: 978-3-641-31631-0
- Sonstige Informationen:
- Produktseite (beim Verlag)

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