Abgesang der amerikanischen Kleinstadtidylle

Als Lester, Sheriff der Kleinstadt Wyalusing in Bradford County, Pennsylvania, von seinem Deputy Mike Sokowski nachts zu einem Trailer gerufen wird, ahnt er noch nicht, dass die folgenden Stunden ein blutiges Inferno hinterlassen werden. In dem Trailer liegt die nackte Leiche der erschlagenen Mindy Knolls, daneben kauert der – nach einem schweren Unfall in seiner Kindheit – geistig zurückgebliebene Danny. Die Sache scheint klar, allein ein aus Holz geschnitztes Rotkehlchen gibt Lester zu denken. Warum sollte Danny die lange Strecke zu Fuß zu Mindy gegangen sein, um ihr zum Geburtstag das selbstgefertigte Geschenk zu überreichen, wenn er sie anschließend umbringt?
„Wyalusing? Klingt nach übelster Pampa. Wo zum Teufel soll das sein?“
„Ungefähr dreißig Meilen südöstlich von hier. Wissen Sie, wo Wysox liegt?“
„Ja, kenn ich.“
„Wysox ist der letzte Ort mit Straßenbeleuchtung auf dem Weg nach Wyalusing.“
Eine wichtige Frage, die sich Mindys Vater Johnny nicht stellt, als er mit einem Gewehr bewaffnet am Trailer auftaucht. Allerdings hat er die Rechnung ohne den State Trooper Bill Taggart aus Towanda gemacht, denn für Tötungsdelikte ist die State Police zuständig. Erneut wird es gewalttätig, ein weiteres Todesopfer ist zu beklagen. Dies ruft wiederum Mindys rachsüchtige Brüder auf den Plan ebenso wie Sokowski und dessen Kumpel Carl, die ihr ganz eigenes Süppchen zu kochen haben. Es werden lange Stunden in den Wäldern von Wyalusing, in denen vor allem die Waffen sprechen.
„Verdammte Scheiße.“
Sorry für die harte Zwischenüberschrift (ein Zitat aus dem Buch), aber wer sich an diesen beiden Worten bereits stört, sollte das vorliegende Buch eher nicht lesen. Es geht verbal noch deutlich rauer und tief unter die Gürtellinie, nicht zuletzt wenn es um Frauen und Sex geht. „Tiefer Winter“ ist der Debütroman von Samuel W. Gailey, der im Original bereits 2014 erschienen ist. Anfang 2024 erschien im Polar Verlag übrigens Gaileys lesenswerter zweiter Roman „Die Schuld“, der in einem ganz anderen Setting spielt.
In „Tiefer Winter“ geht es brutal zur Sache, nicht nur sprachlich. Was will man denn erwarten, wenn Deputy Sokowski und State Trooper Taggart jene Personen sind, die mit Abstand am meisten Alkohol trinken und daher in der Regel betrunken durch die Handlung laufen. Alkohol im Dienst? Klar, muss sein, zumal wenn man wie Sokowski schon immer ein mieser Drecksack war. Gailey gelingt es spielerisch, den Traum von ländlicher Kleinstadtidylle mit Verve zu beerdigen. Geborgenheit, Hilfe von Nachbarn? Eher nicht in Wyalusing. Dort galt der inzwischen vierzigjährige Danny schon immer als „Spast“, mit dem man nichts zu tun haben wollte. So passt er gut in das vermeintliche Täterbild, nur weiß es der Leser von Beginn an besser. Mit polizeilicher Ermittlungsarbeit oder gar Tätersuche hält sich Gailey nicht auf, es gibt direkt auf die berühmte Zwölf, so dass die auf dem Buchcover vermerkte Bezeichnung Kriminalroman etwas irreführend scheint. Jedenfalls ist es kein Krimi klassischer Machart „Verbrechen – Ermittlung – Aufklärung“.
Die rechtlichen Folgen, die es hätte, wenn er Danny umbrachte, waren ihm nicht wichtig – Mord war Mord. Etwas anderes machte ihm viel mehr zu schaffen – er würde einen Menschen töten.
Sympathische Figuren sucht man lange und meist vergebens, wobei – wenig überraschend und immerhin ein Hoffnungsschimmer am weit entfernten Horizont – ausgerechnet Danny derjenige ist, dem man die Daumen drückt und der trotz seiner geistigen Behinderung über Herzenswärme und Empathie verfügt. Für Sheriff Lester gilt dies nur mit Einschränkung angesichts seiner Duldung von Sokowskis ebenso brutalen wie besoffenen Eskapaden und natürlich für Mindy, Dannys einziger Freundin von Kindheit an. Die Story ist ziemlich durchgeknallt und passt daher zu Amerika und den dortigen aktuellen (politischen) Verhältnissen. Wen überbordende Gewalt und ordinäre Dialoge, die einer weißen Männerwelt geschuldet sind, nicht stören, kann sich auf diesen Country Noir einlassen. Es könnte von seiner Art her auch ein Southern Noir sein, allein, Pennsylvania liegt bekanntlich nicht im Süden Amerikas.
Ein mitunter groteskes Lesevergnügen, bei dem es nicht leichtfällt, den Überblick zu behalten, wer letztlich lebend aus der Geschichte rauskommt. Viele, dass sei verraten, sind es nicht. Bliebe abschließend noch zu erwähnen, dass ein dreibeiniges Reh eine nicht unwichtige Rolle spielt. Ist klar, oder? Sollte es jemals zu einer Verfilmung kommen, die Coen-Brüder („Fargo“) wären erste Wahl für die Regie.
- Autor: Samuel W. Gailey
- Titel: Tiefer Winter
- Originaltitel: Deep Winter (2014). Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf. Mit einem Nachwort von Marcus Müntefering
- Verlag: Polar
- Umfang: 296 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Mai 2025
- ISBN: 978-3-910918-22-1
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Wertung: 11/15 dpt