Angie Kim – Happiness Falls (Buch)

Eines Morgens blickt die 20-jährige Mia aus dem Fenster und sieht ihren jüngeren Bruder Eugene auf das Haus zurennen. Eigentlich unüblich, denn der 14-Jährige ist Autist, leidet zudem am Angelman-Mosaik-Syndrom und hat daher unter anderem eingeschränkte motorische Fähigkeiten. Was sie ignoriert: Ihr Vater, mit dem Eugene jeden Vormittag zum Wandern in den nahe gelegenen River Falls Park geht, ist nicht an der Seite seines Sohnes. „Wo war mein Vater? Ich habe mir den Kopf zerbrochen beim Versuch, mich zu erinnern, ob mir diese Frage in dem Moment überhaupt in den Sinn kam.“ Erst am Nachmittag, als ihre Mutter und ihr Zwillingsbruder John nach Hause kommen, fällt auf, dass der Vater nicht im Haus ist und auch nicht auf Nachrichten an sein Handy reagiert. „Wir haben nicht gleich die Polizei benachrichtigt. Später habe ich mir deswegen Vorwürfe gemacht und überlegt, ob alles anders ausgegangen wäre, wenn ich die Sache sofort Ernst genommen hätte.“ Eugene kann sich verbal nicht mitteilen – was auf dem Wanderausflug geschehen ist, hat ihn zwar extrem aufgewühlt und verstört, aber er kann seiner Familie nichts erzählen.

Schon gleich zu Beginn macht Schriftstellerin Angie Kim bzw. die Erzählerin Mia den Lesern klar: Ab jetzt werden ihnen ständig kleine Möhrchen vor die Nase gehalten, damit sie immer schön weiterlesen. Ach, wäre das doch anders geschehen, hätte man zu diesem Zeitpunkt nur schon dieses oder jenes gewusst, später würde das hier eine andere Bedeutung erhalten… Hier erzählt jemand, der die gesamte Geschichte schon kennt, aber lieber in seinem Tempo und seiner Reihenfolge mitteilt. Und von sich selbst sagt: „Entschuldigung, ich schweife ab. Das ist einer meiner größten Fehler, und ich versuche, daran zu arbeiten.“

Unsere Gehirne sind so verdrahtet, dass sie sich immer eine Antwort wünschen. Je größer das Geheimnis, desto tiefer die Befriedigung, wenn es gelöst wird.S. 410

527 Seiten wird das das Prinzip sein, um die vielen Wendungen, Überraschungen und Unsicherheiten zu erzählen, die irgendwie mit dem Fall des verschwundenen Vaters zu tun haben. Es taucht ein Video auf, in dem Eugene an dem Tag des Verschwindens seinen Vater angreift. Der durchnässte und lädierte Rucksack des Vaters wird entdeckt, in dem sich Notizen befinden, die offenlegen, dass er mit seinen drei Kindern letztendlich kleine Experimente zum Empfinden von Glück gemacht hat und sie dafür seine Versuchskaninchen waren. Ein Arztbesuch des Vaters und eine mögliche, geheim gehaltene Diagnose werfen Fragen auf. Eventuell gab es vielleicht sogar eine Geliebte, auf die eine Sprachnachricht hinweist. Vieles wird nach einigen Recherchen revidiert, einiges neu interpretiert. Aber nichts bleibt für längere Zeit so, wie man es gedacht hat. Lange Passagen und Fußnoten beschäftigen sich (in absolut interessanter und spannender Form) mit dem Empfinden von Glück, zur Semantik und zur Kognitionsforschung – und verzögern weiterhin das Fortschreiten des „Kriminalfalls“.

Ich habe eine große Schwäche für überraschende Erkenntnisse. Ich liebe es, sofort nach der Auflösung zum Anfang zurückzugehen und alles neu zu lesen/von vorne anzuschauen, zu bestaunen, wie die Auswirkung einer Annahme auf den Kopf gestellt wird, wie die Szenen dieselben bleiben, aber ihre Bedeutung sich verändert.S. 373

Das alles zieht die Leser in einen Strudel von Informationen, von falschen und richtigen Vermutungen und Ratlosigkeit. Wem kann man in seiner Wahrnehmung trauen? Was wird durch Mia, die die Geschichte aus der Rückblende erzählt, subjektiv verfälscht? Wie eingeschränkt in seinen Fähigkeiten ist Eugene eigentlich wirklich? Jedes Kapitel eröffnet weitere, neue Möglichkeiten, die sich immer weiter verzweigen.

Auch wenn das Schicksal des Vaters inhaltlich der rote Faden ist und die Handlung sich größtenteils innerhalb von Tagen abspielt: Schriftstellerin Angie Kim geht es in ihrem Familiendrama um ganz andere Dinge, die weit über das hinausgehen. Wie geht man mit Menschen um, in deren Welt man selbst nicht blicken kann? Unterschätzt man sie, trägt man damit sogar noch zu deren Isolation von der Welt bei? Liegt es nicht eher an den fehlenden motorischen Fähigkeiten, Sprache auszudrücken, als an fehlenden kognitiven Fähigkeiten? Die Schriftstellerin ist Koreanerin, die mit elf Jahren mit ihren Eltern in die USA auswanderte – und aufgrund ihrer fehlenden Sprachkenntnisse oftmals für dumm gehalten wurde. „Unsere Gesellschaft setzt Ausdrucksfähigkeit, vor allem flüssiges Sprechen, mit Intelligenz gleich“, erläutert sie in ihren sehr lesenswerten „Anmerkungen der Autorin“. Hier finden sich auch ihre persönlichen Bezüge zu ihrer fiktiven Geschichte um Eugene und seine Familie sowie ihre Quellen, die sie genutzt hat.

Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb einer koreanisch-amerikanischen Familie sind ein wichtiges Thema in „Happiness Falls“. Hin und wieder klingt zudem die Thematik an, wie die Herkunft – die Mutter ist Koreanerin – und die Erfahrungen der Einwanderung eine Persönlichkeit prägen. Erschreckend ist, wie schnell Eugene in Verdacht gerät und seine Familie in die teils unbarmherzigen Mühlen von Justiz und Verwaltung geraten.

Fazit:

„Happiness Falls“ von Angie Kim ist ein detailreicher Roman, der sich mit Familie und Gesellschaft beschäftigt. Rund um ein Ereignis – das Verschwinden des Vaters bei einer gemeinsamen Wanderung mit dem autistischen Sohn – gibt es viele wertvolle Denkanstöße unter anderem zum Umgang mit Menschen mit Einschränkungen, zum Empfinden von Glück, zur Dynamik zwischen Familienangehörigen oder auch zur Justiz.

Wertung: 14/15 dpt

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