Barbara Imgrund – Der Wurm: Eine kleine Geschichte (Roman)

„Eine kleine Geschichte“, untertitelt Barbara Imgrund ihren jüngsten, im Helmer Verlag erschienenen Roman „Der Wurm“ und begeht damit eine ziemlich krasse Untertreibung. Denn „klein“ ist an diesem Roman allerhöchstens der Umfang, der sich auf schmale 150 Seiten konzentriert. Alles andere ist der Hammer, nein, eher die sprichwörtliche Axt, die das gefrorene Meer in uns zerbrechen will. Barbara Imgrunds Roman besitzt enorm großes Gewicht.

Handlungsort ist ein einsamer Berghof, umgeben von gewaltiger Gebirgskulisse. Vor diesem Hintergrund erscheint tatsächlich vieles klein. So auch die Protagonistin Martha. Als alte Frau kehrt sie aus dem Tal zurück auf den Berg, den Ort ihrer Kindheit. Hier oben will sie sterben. Klein ist der letzte Rest an Lebenskraft, den sie noch hat. Klein und schwach fühlt sie sich gegenüber einer Zukunft, die sich drohend vor ihr aufbaut. Denn unten im Tal ist er zurück, der Wurm, wie sie ihn nennt, der Parasit, der die Menschen vergiftet. Martha hat als Kind die Zeiten des Faschismus er- und überlebt und erkennt nun, wie das alte Übel wieder über die Gesellschaft kommt.

Nun kann sie dort unten nicht mehr bleiben, denn wieder
kriecht etwas ins Tal, das sie schon kennt: ein Parasit, ein Schmarotzer,
braun, feist, giftig, der sich in die Köpfe der Leute frisst und ihnen
Herrentum einpflanzt.

Seite 13

Aktueller kann Literatur nicht sein. Mitten in die Abgeschiedenheit der Berge hinein trägt Imgrund den Zeitgeist, der im Jahr 2025 Europa ebenso wie den Rest der Welt bedrohlich umklammert. Aus Marthas Erinnerung wächst die Geschichte und Imgrund zeigt uns: Nie war Erinnern wichtiger als heute, nie war Geschichte aktueller als gerade jetzt.

Mit Sätzen, die wie aus Stein gemeißelt daherkommen, inszeniert Imgrund ihr Setting als einen Ort von zeitloser Gültigkeit. Dieser Ort ist nicht modern. Das Alltagsleben wird durch Traditionen bestimmt, die Natur ist der Taktgeber. Pragmatismus und Zähigkeit bilden die Grundlagen des Glaubens.

Das hat die Mutter immer gesagt, in der Stimme die Duldsamkeit
der Bergbauern, die sich in das schicken, was ihnen der Herr über den Lauf der
Dinge hier oben zuteilt: Gott oder der Berg oder wie er auch heißen man. Es
muss ein Er sein, solche Dinge kommen nicht von einer Sie.

Seite 12

Mit ihren Geschwistern und den Eltern führt das Kind Martha ein entbehrungsreiches Leben. Die jährlich den Bergen abgetrotze Ernte reicht kaum um über die Runden zu kommen. Der Vater regiert die Familie mit Härte. Einzig Luis, der große Bruder, schenkt ihr Geborgenheit.

Eigentlich kann man sich keinen unpolitischeren Ort denken als diesen. Welchen Halt sollten Gedanken finden, die so mit dem Überleben beschäfftigt sind? Doch die Autorin zeigt uns, dass der Faschismus selbst diesen Ort nicht auslässt, dass er die Menschen überall verführt und zum Bösen zieht.

Sorgfältig skizziert die Autorin die Veränderungen nach. Der Vater verändert sich. Martha beginnt ihn zu fürchten. Und er ist nicht der Einzige. Allmählich verschwindet die Menschlickeit im Dorf. Mit dem Krieg zieht ein weiterer Schrecken ein.

Zwischen Damals und Jetzt bewegt sich Marthas Geschichte. Behutsam knüpft die Autorin die Fäden zwischen den Zeiten und macht Zusammenhänge sichtbar. Bis kurz vor Ende wird der Spannnungsbogen aufrecht erhalten.

Allein Imgrunds Sprache macht den Roman zu einem Ereignis. Ihre Diktion ist klar und zugleich poetisch verdichtet. Scheinbar mühelos gelingt ihr die Balance aus nüchterner Sachlickeit und assoziativer Beschreibung. Kein Wort ist zu viel. Jedes am richtigen Platz. Ihre Prosa ist perfekt austariert.

Die einzige Kritik, die man an den Roman herantragen könnte, liegt im Optimismus der Autorin. Der hoffnungsvolle Ausklang, den Imgrund ihrer Geschichte gibt, passt kaum zur düsteren Schwere des restlichen Textes. Doch natürlich liegt genau drin eine eindeutige Botschaft an die Leser:innen: Geschichte muss sich nicht wiederholen. Literatur wie der Roman von Barbara Imgrund liefern dazu einen wichtigen Beitrag.

„Der Wurm. Eine kleine Geschichte“ steht auf der Hotlist 2025.

  • Autorin: Barbara Imgrund
  • Titel: Der Wurm: Eine kleine Geschichte
  • Verlag: Ulrike Helmer Verlag
  • Erschienen: April 2025
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 152 Seiten
  • ISBN: 978-3897414945

Wertung: 15/15 dpt

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