Frederick Forsyth – Die Akte ODESSA (Buch)

Thriller trifft Sachbuch

Im Oktober 1963 folgt der freie Journalist Peter Miller einem Krankenwagen, dessen Einsatz womöglich eine Story liefert. Doch scheinbar gibt die Sache nichts her, denn es handelt sich um den Selbstmord eines alten Mannes in Altona. Aber der Schein trügt, denn am nächsten Tag übergibt Kriminalinspektor Karl Brandt seinem Freund das Tagebuch des Mannes. Salomon Tauber saß zum Kriegsende im Konzentrationslager Riga, überlebte das Rigaer Ghetto und schildert detailliert das Grauen im Lager, für das der SS-Hauptsturmführer Eduard Roschmann verantwortlich war.

Miller ist elektrisiert, will weitere Informationen und erfährt von einem Bekannten Taubers, dass dieser sich umgebracht habe, da er sicher war, kürzlich Roschmann in Hamburg gesehen zu haben und weil er glaubte, dass dieser nicht ins Gefängnis gehen müsste. Miller ist bereit alles zu riskieren, um herauszufinden, unter welchem Namen Roschmann heute lebt. Allerdings gerät er dabei in den Blick der Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen, kurz ODESSA, die mit allen Mitteln vermeiden will, dass Roschmann enttarnt wird.

„Es gibt bei der Polizei eine Art stillschweigender – na ja, Übereinkunft wäre zu viel gesagt. Es ist eher so eine generelle Einstellung, nichts Konkretes, eigentlich nur so ein Gefühl. Und dieses Gefühl besagt eben, dass es der Karriere eines jungen deutschen Polizeibeamten nicht förderlich sein kann, wenn er für die Kriegsverbrechen der SS ein allzu eifriges kriminalistisches Interesse an den Tag legt.“

Derweil will Ägypten moderne Raketen herstellen, um einen Vernichtungskrieg gegen Israel führen zu können. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit und ein Kampf um deutsche Wissenschaftler, da die Pariser Verträge diesen verbieten, in Deutschland eigene Raketenforschung zu betreiben. Doch der israelische Geheimdienst Mossad hat seine Männer überall; in Jerusalem, in Kairo und in Deutschland.   

Packender wie bedrückender Weltbestseller

„Die Akte ODESSA“ ist fünfzig Jahre nach seiner Erstausgabe in Deutschland noch immer ein faszinierender Thriller, dessen Autor Fredrick Forsyth, er verstarb am 9. Juni dieses Jahres, zweifelsohne zu den weltbesten Spionagethrillerautoren zählt. Auch der mehrfach verfilmte Roman „Der Schakal“, wobei nicht alle Filme nah an der Buchvorlage waren, sowie „Des Teufels Alternative“ seien genannt. Die Romane sind naturgemäß in die Jahre gekommen, angestaubt sind sie deswegen jedoch nicht und bieten wie im vorliegenden Fall einen packenden Mix aus Thriller und Sachbuch. Wer wissen will, wie hochrangige SS-Angehörige nach Kriegsende weiter unbehelligt in Deutschland, oft in hohen Funktionen, leben konnten, findet hier eine erschütternde Antwort.

Das ausführliche Tagebuch des Salomon Tauber enthüllt den unmenschlichen Alltag und die willkürlichen Gräueltaten im Rigaer Ghetto, dessen Lagerkommandant Eduard Roschmann war. Dieser starb, kein Spoiler, im August 1977 in Paraguay. Wie das Machtsystem der SS und die Lagerstruktur funktionierten, erfährt Miller zudem später in längeren Gesprächen mit Simon Wiesenthal in Wien und von einem früheren SS-Mann, der jetzt für den Mossad arbeitet. Er bringt Miller alles bei, was dieser wissen muss, um in die Geheimorganisation einsteigen zu können. Allerdings kommt es ein wenig anders, da sich Forsyth eine überraschende Pointe hat einfallen lassen.

Manch einem mögen die Details zu sehr in die Tiefe gehen, sind aber derart fesselnd wie informativ, dass man weiterlesen muss. Auch wer über das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg, die Lager und die Nachkriegsjahre in Deutschland vieles zu wissen glaubt, wird angesichts der Informationsfülle beeindruckt sein, wobei diese den Thrillerplot keineswegs stört oder unterbricht, sondern vielmehr unterstützt.

In den letzten Jahren erschienen einige Kriminalromane, die sich der Frage widmeten, wie es sein konnte, dass ranghohe Nazis und Kriegsverbrecher einfach ihr Leben in Deutschland fortführen konnten? Teils in herausgehobenen Positionen wie beispielsweise Hans Globke, der von 1953 bis 1963 Staatssekretär unter Bundeskanzler Adenauer war oder Reinhard Gehlen, einst Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost, der von 1956 bis 1968 den Bundesnachrichtendienst als dessen Präsident führte und zahlreiche „Weggefährten“ mit lukrativen Jobs versorgte. An dieser Stelle sei auf den Roman „Ritchie Girl“ von Andreas Pflüger verwiesen.

Weder Russland noch Amerika, England oder Frankreich waren bereit, auch nur einen einzigen qualifizierten Mann zu stellen. Die ODESSA wies jedoch darauf hin, dass Nasser Raketen von der Größe und Reichweite der V-2-Raketen brauchte, die Wernher von Braun während des Krieges mit seinem Team in Peenemünde gebaut hatte. Und eine ganze Anzahl seiner ehemaligen Mitarbeiter war noch immer verfügbar.

Nicht weniger spannend wie die Jagd nach Roschmann, ist der Konflikt zwischen Israel und Ägypten. Unter Kanzler Adenauer hat Deutschland sich zu Waffenlieferungen an Israel bereit erklärt, doch wird sein Nachfolger Erhard diesen Weg fortsetzen? Erhard erfüllt zwar US-Präsident Kennedy jeden Wunsch, doch mit dessen Ermordung startet der Roman. Während Stimmungsmache gegen Israel in Deutschland organisiert sein will, kämpfen die Ägypter um deutsche Wissenschaftler, während die Israelis mit nicht allzu zimperlichen Methoden dies verhindern wollen.

Man kann sich heute kaum vorstellen, wie der Roman bei seinem Erscheinen im Jahr 1973 eingeschlagen sein muss. Rund zwölf Jahre nach dem spektakulären Eichmann-Prozess legte Forsyth den Finger mächtig in die Wunde. Laut Verlag wurde die deutsche Ausgabe von Simon Wiesenthal kritisch begleitet.

Kurzum: Der Roman ist nach wie vor aktuell und immer noch wunderbar lesbar. Allein mit dem Auto des Protagonisten hat es der Autor übertrieben. Miller fährt mit dem denkbar auffälligsten Wagen quer durch Deutschland, während ihm die allgegenwärtige ODESSA auf der Spur ist.  

  • Autor: Frederick Forsyth
  • Titel: Die Akte ODESSA
  • Originaltitel: The Odessa File (1972). Aus dem Englischen von Tom Knoth
  • Verlag: Piper
  • Umfang: 272 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Januar 2013
  • ISBN: 978-3-492-30216-6
  • Produktseite

Wertung: 13/15 dpt

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